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Zum Katholizismus, dieser wichtigen Wurzel meines Seins, hatten wir ein ganz unverkrampftes Verhältnis. Viele Autoren berichten, wie sehr sie unter dem Druck von Glauben und Kirche gelitten hätten, vor allem dann, wenn sie in einer Klosterschule aufwachsen mußten. Lediglich Bruder Klaus hat ein oder zwei Jahre in der berühmten Klosterschule Ettal verbracht. Er war davon begeistert, kam die spartanische Unterbringung doch seiner strengen Glaubens- und Lebensauffassung entgegen. Ich habe mich als Kind und Jugendlicher im Katholizismus zuhause gefühlt. Die Familie besuchte sonntags meistens die Elf-Uhr-Messe, die man auch Faulenzer-Messe nannte. Alle vier Wochen ging ich zur Beichte und zur heiligen Kommunion. Im Bett sprach ich das angstnehmende Abendgebet. Zur ersten heiligen Kommunion ging ich mit acht oder neun Jahren, vorbereitet durch langweiligen Unterricht in der Zoppoter Marienkirche. Wir Buben machten dabei viel Unfug. Von der Kommunionsfeier selbst ist mir wenig in Erinnerung geblieben, um so mehr von der Blinddarmoperation am Tage danach. Das Zimmer im Krankenhaus war ein Blumenmeer. Auch ein Teil meiner Kommunionsgeschenke war mitgekommen. In den paar Tagen fühlte ich mich wie ein König. Mutti war mein liebster Besuch.  Sie konnte herrlich erzählen und so herumalbern, daß ich vor Lachen Narbenschmerzen bekam und sie das Zimmer verlassen mußte. Professor van der Reis, der chirurgische Chefarzt des Danziger Krankenhauses hatte mich selbst operiert. Er war ein freundlicher Mann, mittelgroß, jedoch drahtig, blond und blauäugig. Seine Frau war plattfüßig, ziemlich fett, hatte vorstehende Backenknochen und eine fleischige Krummnase. Sie sah also so aus wie Julius Streichers Hetzblatt 'Der Stürmer' eine typische Jüdin zu karikieren pflegte. Frau van der Reis war jedoch rein arisch, der Professor entstammte hingegen einem alten holländischen Judengeschlecht. Beide sind rechtzeitig nach Brasilien ausgewandert.

Daß van der Reis Jude war, wußten manche, es interessierte niemanden. Jüdische Ärzte hatten überhaupt unser größtes Vertrauen. Als Baby erkrankte ich an einer Lungenentzündung schwer. Man hatte mich schon aufgegeben, als der Hausarzt meiner Großeltern Dr. Abraham auf den Gedanken kam, es mit Cognac zu versuchen, worauf ich prompt gesundete. Dieses frühe Erlebnis soll nach Familiensage meine Vorliebe für alkoholische Getränke begründet haben, die in Wahrheit auf der problematischen Vorstellung der Eltern beruhte, daß ein Mann etwas vertragen müsse.

Kurz nach der Kommunion wurde ich auch gefirmt. Der Zeitpunkt der Firmung hängt davon ab, wann der Bischof die betreffende Pfarrei besucht und so kommt es immer wieder vor, daß eine 75-jährige Oma, die bisher noch zur Firmung keine Gelegenheit hatte, neben einem neunjährigen Jungen zu stehen kommt.

Der Maler Janosch hat in einer Talkshow Scham und Widerwillen geschildert, dem Vertreter der ohnehin bedrückenden übermächtigen Kirche die Hand küssen zu müssen. Davon habe ich nichts empfunden. Die ganze Volksschulklasse der katholischen Schule marschierte geschlossen zur Kirche. Es bildeten sich zwei Reihen von überwiegend jungen Leuten und Kindern, die vom Altar bis zum Kirchenvorplatz reichten. Der Klassenlehrer übernahm die Rolle des Firmpaten, der jedem Firmling kurz die Hand auf die Schulter zu legen hatte. Während auf dem Vorplatz einige Firmlinge noch miteinander rauften, kam der Bischof auch zu mir. Handauflegung, Salbung, Herabflehung des heiligen Geistes dauerten vielleicht eine Minute. Der Kuß des Bischofsringes war eine harmlose Formalität oder weniger harmlos ein Ritus, ein heiliger Brauch wie das Hinknien, das Kreuzzeichen machen, das Abnehmen der Kopfbedeckung im Kirchenraum.

Ähnlich verhielt es sich mit Beichte und Kommunion. Natürlich gab es da Probleme: Was soll ein zehnjähriger mit der Frage des Beichtspiegels anfangen 'Habe ich Unkeusches gedacht?' oder 'Habe ich mich unkeusch selbst berührt?'. Hier und durch andere Dinge, auf die ich später zurückkomme, wurden einer bedenklichen Verklemmung Vorschub geleistet, eine Stigmatisierung vollzogen, die so leicht nicht überwunden werden konnte. Andererseits war es für ein Kind, das immer etwas ausgefressen hatte, immer zu Notlügen gezwungen war, sehr vorteilhaft, die ganze Angelegenheit mit drei 'Vater unser' und drei 'Gegrüßet seist du Maria' hinter sich zu bringen und damit vergessen zu können. Wenn ich zur heiligen Kommunion schritt, vorm Altar niederkniete, vom Priester die Oblate auf die Zunge gelegt bekam, dann waren das Momente, wo ich mich ganz heilig fühlte. Und da sich bei mir schon als Kind Gefühle im körperlichen Ausdruck widerspiegelten, habe ich in solchen Momenten wohl tatsächlich sehr verinnerlicht ausgesehen. Theater hat im religiösen Ritus seinen Ursprung.

Die besondere Eigenart eines Mythos besteht nach Wilhelm Wundt darin, daß die angenommenen Objekte ganz und gar durch die eigene Natur des wahrnehmenden Subjekts bestimmt werden. Hier zeigt sich für mich besonders die Eigenart des in unserer Familie gelebten Katholizismus. Das war schon bei den Großeltern so.

Als mein Großvater seinen ersten Schlaganfall bekommen und recht und schlecht überwunden hatte, sagte er zu seiner Frau: "Mariechen, wenn ich wieder einmal umfallen sollte, warte bitte eine Stunde bis du den Arzt rufst." So geschah es. Als dann Dr. Abraham eintraf, war mein Großvater tot. Das war 1928. Ein Fall 'unterlassener Hilfeleistung'? Von der Gesellschaft wie von der katholischen Morallehre sicher verworfen, aber eben selbstverständlich. Meine Großmutter, von deren Redlichkeit die Familienanekdote behauptet, sie würde sogar beichten, daß sie sich beim Patience legen selbst beschummelt hatte, hat dies wahrscheinlich nicht gebeichtet. Ihr Gott war damit einverstanden.

Für mich, den verwöhnten, aber nicht ungefährdeten Jüngsten, war Gott eigentlich immer wirklich der liebe Gott. Wenn ich Angst hatte, betete ich zu ihm, vor allem wenn ich Angst hatte, daß einige krumme Sachen aufkommen könnten, erschien er mir als verläßlicher Helfer, dem ich durchaus dankte, wenn man mich nicht erwischt hatte. Insofern habe ich mich damals eigentlich von einem Mafioso kaum unterschieden. Der Vers in Gottfried von Straßburgs 'Tristan und Isolde': 'Im stillen Herzen hoffte sie getrost auf Gottes Courtoisie' paßt am besten auf mein religiöses Selbstverständnis.

Ganz anders verhielt es sich bei meinem ältesten Bruder. Sein Gott war sicher auch gütig, aber nur bei strenger Befolgung seiner Gebote. Dem Ernsten gab ein strenger und ernster Gott Antwort. Klaus beschäftigte sich engagiert mit religiösen Themen. Er las z.B. mit großer Anteilnahme das Buch 'Der Staat Gottes' eines spanischen Priesters und 'Opus Dei' Mannes. War er ein Fanatiker? Sicher nicht. Gott oder wohl besser Christus gab ihm die Antwort, die seinem Wesen entsprach. Sein Christus hieß ihn 1945 als Stabsarzt mit seinem Hauptverbandsplatz in russische Gefangenschaft zu gehen und als Lagerarzt mutig für seine Mitgefangenen einzutreten, dafür zweimal ins Bergwerk geschickt zu werden, ohne daran zu zerbrechen. 1951 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen.

Er hatte vor dem Krieg ein Mädchen aus Glandorf geheiratet, einem Ort ganz in der Nähe von Ostbevern, dem Geburtsort meines Vaters und später nicht weit davon seine Arztpraxis eröffnet. Die große Bewunderung für ihn wich mit der Zeit einem steigenden Befremden, als seine Religiosität sich immer mehr in Richtung einer eifernden, moralisierenden Enge entwickelte. Aus meinem Helden wurde ein eifriges, frommes, gehorsames Mitglied seiner Pfarrgemeinde und es hat mir wehgetan, als bei seinem Leichenbegängnis nur dieses gewürdigt und mit keinem Wort seines wahrhaft christlichen Opferganges als russischer Lagerarzt gedacht wurde.

Wenn ich also mit einer gewissen Dankbarkeit an Familie und Kirche, jene beiden tragenden Säulen meiner Kindheit und Jugend zurückdenke, so soll doch nicht eine negative Prägung vergessen werden, die mir und wahrscheinlich auch meinen Brüdern zu schaffen machte: die Tabuisierung der Sexualität.

Penis und Vulva waren ungekannte Gebiete. Es gab kein Verbot, das Tabu war vielmehr vollkommen in sich geschlossen. Ein diffuses Gebot der Reinheit durchdrang alles Sein, so daß man gar nicht auf den Gedanken kam, darüber zu sprechen. Meine Mutter hatte irgendwann, wir waren alle längst erwachsen, geäußert, wie unerfreulich es wäre, wenn der Mann 'wie ein Tier über einen kommt'. Ich habe die Äußerung meinem Vater viel später wiedergegeben, er war damals schon über 60 Jahre alt. Er war sehr erstaunt, konnte es nicht glauben, berichtete vielmehr über wunderbare gemeinsame Liebesnächte. Ich bin mir auch sicher, daß mein Vater ein guter, einfühlsamer Liebhaber gewesen ist. Es hat sich wohl um die spätere Abwertung eines Vorgangs gehandelt, durch den die Ehe so belastet worden war. Alle drei Brüder hatten ihren ersten Sexualverkehr mit den Frauen, die sie geheiratet haben, wobei die Reihenfolge wohl verschieden gewesen sein dürfte. Die späten Auswirkungen unserer asexuellen Erziehung war für jeden verschieden, haben aber jeden von uns über längere Zeit geprägt.

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Last Update: 24.02.2005