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Anfang September 1939 überschritt unser Regiment die polnische Grenze und beteiligte sich an der Einnahme des polnischen Hafens Gdingen. Der Widerstand war nicht übermäßig groß, so daß wir bald in die Stadt eindringen konnten. Im ganzen Polenkrieg war ich nie mehr als zehn Kilometer Luftlinie vom Elternhaus entfernt. Am Tag nach der Einnahme wurde unsere Kompanie zur Bewachung von Zivilisten abkommandiert. Die SS oder wer auch immer hatte alle Männer der Stadt auf einen Platz getrieben, auch Kranke, Hilflose, Alte und Gebrechliche. So standen etwa dreitausend Männer eng zusammengedrängt und wir hatten sie einen ganzen Tag lang zu bewachen. Sie bekamen weder etwas zu essen noch zu trinken. Wir Soldaten bewachten also keine Gefangenen, sondern wehrlose Männer, die keinem von uns etwas getan hatten. Ich nehme heute an, daß sie ohne ihre Familien nach Zentralpolen weggeschafft oder genauer verschleppt worden sind. So waren wir Handlanger eines Systems geworden, wir mußten ohne Rücksicht auf Kriegsrecht und Konventionen wehrlose Menschen bis zur Verschleppung bewachen und wurden so gleich bei Kriegsbeginn Teil einer perfekt funktionierenden Maschinerie zur Menschenvernichtung. Ich werde im Laufe meines Berichts auf weitere Erlebnisse dieser Art zurückkommen.

Die deutsche Wehrmacht hatte mit Beginn des Polenfeldzugs die eigene Soldatenehre aufgegeben und sich zum Vollstreckungsorgan eines unmenschlichen Systems mißbrauchen lassen. Weniger vielleicht wie die anderen Organisationen des Nazisystems, aber dennoch oft genug. Dies alles war mir damals nicht so voll bewußt. Doch obwohl ich gerade erst neunzehn Jahre geworden war, graute mir vor diesem System. Wenige Tage später schritt Hitler die Front der Truppen ab. Ich stand im ersten Glied. Der Abstand zu Hitler betrug für wenige Sekunden nur etwa ein bis zwei Meter. Sein Anblick hat mich nicht sonderlich beeindruckt. Mich beschäftigte vielmehr der Gedanke, daß ich ihn hätte töten können. Handgranaten hatten wir alle, kein Vorgesetzter hat uns vorher nach irgendwelchen Waffen durchsucht. Granate abziehen, auf ihn zuspringen, trotz Schüssen an ihm festgeklammert bleiben, mit ihm zerfetzt werden. Das wäre der Weg gewesen, den Tyrannen zu beseitigen. Ich war zu jung und hing am Leben. Was wäre bei nationalsozialistischer Sippenhaftung auch aus meiner Familie geworden. Lag es an meinem Hang zur Dramatik? Verfolgt hat mich der Gedanke während des ganzen Krieges und darüber hinaus. Ich war kein Held, wohl später ein brauchbarer, erfahrener Soldat, ein Held nur in der Phantasie und später auf der Bühne.

Als wir dann später als Sieger, nun mit Beifall, vielleicht auch mit Jubel begrüßt, in Danzig einmarschierten, stand auch mein Vater am Straßenrand. Nachdem sich der Verband aufgelöst hatte und ich mit ihm nun endlich nach Hause fahren konnte, fragte er mich doch tatsächlich, warum ich noch kein Eisernes Kreuz verliehen bekommen hätte. Dies nach bestenfalls zehn Tagen Einsatz! Ich habe ihm diese vaterländische Frage ziemlich übel genommen.

Am 19. September zog Hitler mit großem Pomp und vom Volke mit Jubel begrüßt in Danzig ein. Er fuhr die festlich geschmückte Langgasse entlang auf den Langen Markt zu, den man getrost als einen der architektonisch schönsten Plätze der Welt bezeichnen kann. Ich stand in Zivil an der Straße und schaute dem Schauspiel zu. Warum Göring, damals preußischer Ministerpräsident und Kommandeur der Luftwaffe, zu Fuß dicht an mir vorbeigegangen ist, ist mir bis heute schleierhaft. Doch ich kann schwören, er war wenige Meter von mir entfernt und ich sah sein Gesicht, und das Gesicht war geschminkt. Göring war ja eine der schillerndsten Figuren der Naziführungsclique. Er war dick, genußsüchtig, manchmal schien er gutmütig, spielte den Jovialen und war oft extrem grausam. Er war prädestiniertes Objekt des Witzes, der einzigen Waffe des Volks gegen die Unterdrücker.

Zwei Kostproben: Beim Brand des deutschen Reichstages stürzt ein Adjutant zu ihm ins Zimmer und ruft: "Herr Ministerpräsident, der Reichstag brennt!" Görings Antwort: "Was, jetzt schon?" Er hatte die Schauspielerin Emmy Sonnemann geheiratet. Einige Zeit später kam die Tochter zur Welt, sie hieß Edda, für der Volksmund die Abkürzung von 'Emmy dankt dem Adjutanten'.

Im Deutsch-Russischen Vertrag waren die baltischen Staaten dem Einflußbereich Sowjet-Rußlands zugesprochen worden. Ab November begann nun der Exodus der Balten-Deutschen aus ihren angestammten Gebieten Lifland, Estland und Kurland, der ehemaligen Provinz des russischen Reiches, wo sie als kulturelle und wirtschaftliche Oberschicht riesige Herrensitze bewirtschafteten und im Dienst der Zaren zu hohen Ämtern aufgestiegen waren. Nun wurden sie 'heim ins Reich' geholt, das heißt, sie wurden dort angesiedelt, wo man vorher die Polen vertrieben hatte. Bei uns in Zoppot wurde über einige Monate ein Pfarrersehepaar mit zwei erwachsenen Töchtern einquartiert. Lebensmittel waren damals schon rationiert und so bestaunten wir fast ehrfürchtig ihre mitgebrachten Vorräte. Am meisten beeindruckte ein kistengroßer Quader durch Salz haltbar gemachter Butter, der mindestens fünfzig Kilogramm gewogen haben muß. Dazu kamen große Mengen Honig. Marmelade war nicht dabei, so etwas aßen nicht die Herrschaften, sondern nur das Gesinde. Es waren hochgebildete Leute mit vornehmer Zurückhaltung und erstklassigen Manieren, so daß selbst meine Mutter beeindruckt war. Die eine Tochter war Bildhauerin, die andere Pianistin. Bruder Klaus, der damals gerade sein Studium als Arzt beendete, und ich führten die Töchter aus und zeigten ihnen das Zoppoter Nachtleben. Unvergeßlich bleibt mir der Abend, bevor ich wieder einrücken mußte. Ich lag im verdunkelten Biedermeierzimmer auf dem Sofa. Vom Herrenzimmer klang gedämpft die Unterhaltung herüber und die Pianistin spielte nur für mich sicher zwei Stunden lang ihren Lieblingskomponisten Alexander Skriabin. Noch einmal konnte ich für einige Zeit meine stumpfsinnige Soldatenexistenz und den bevorstehenden Kriegseinsatz vergessen.

Seitdem ich die Uniform tragen mußte, steckte im Stiefelschaft die Reclamausgabe von Burckhardts 'Kultur der Renaissance in Italien' und half mir, immer wieder für kurze Zeit in andere Sphären zu entfliehen, wenn der Stumpfsinn um mich herum unerträglich wurde.

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Last Update: 24.02.2005