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Zwischen mir und dem Abitur stand jedoch noch ein anderes schweres Hindernis. Ich war nicht in der HJ. Indessen hatten sich nämlich die Verhältnisse im Freistaat Danzig denen im Reich immer mehr angeglichen. Der Hohe Kommissar des Völkerbundes Gravina war durch den Schweizer Carl Burckhardt abgelöst worden, der neben vielen anderen auch ein Buch 'Meine Danziger Mission' geschrieben hat. Tatsächlich war er, nachdem Hitler aus dem Völkerbund ausgetreten war, machtlos und unfähig, die weitgehende Angleichung Danzigs an die Verhältnisse im Reich zu verhindern. Der ursprünglich freiwillige Arbeitsdienst wurde zur Pflicht, die HJ zur Staatsjugend. Schon längere Zeit waren viele junge Menschen, vor allem Abiturienten, ins Reich gegangen, um dort freiwillig den Wehrdienst abzuleisten.

Die Reichsprogromnacht fand, wenn auch weniger brutal, auch in Danzig statt. In Zoppot merkte man nichts davon. Viele, ich hoffe die meisten, jedenfalls alle uns bekannten Juden verließen spätestens nun den Freistaat. So wurde es Pflicht, der Hitlerjugend anzugehören. Also nahm mich Herr Gall beiseite, um mir klipp und klar mitzuteilen, daß ich zum Abitur nicht zugelassen würde, wenn ich ihr nicht beiträte. Mir wurde angeboten, in der Rundfunkspielschar mitzumachen, weil sich meine rezitative Begabung herumgesprochen hatte und wohl auch, um mir den Eintritt zu versüßen.

Ab dem vierzehnten Lebensjahr stand mein Berufswunsch nun endgültig fest: Ich werde Schauspieler und vielleicht auch Regisseur. Mit ausschlaggebend für diese Entscheidung war eine Aufführung von Shakespeares Hamlet am Preußischen Staatstheater, die ich mit meiner Mutter besuchte. Heute noch, nach fast sechzig Jahren steht mir diese großartige Inszenierung vor Augen. Gustav Gründgens in der Titelrolle: er steht am Bühnenrand und spricht das 'Sein oder nicht Sein'. Eigentlich flüstert er es nur, aber dank seiner genialen Sprechtechnik versteht es jeder in dem Riesenraum. Hilde Weissner als Königin, Walter Frank als Claudius, Käthe Gold als Ophelia, Aribert Wäscher als Polonius, Hans Brausewetter als Rosenkranz und so weiter und so weiter. Ein zweiter unvergeßlicher Eindruck war später dann das Gastspiel des deutschen Theaters mit der Hilpert-Inszenierung von Schillers Don Carlos in unserem vom Volksmund 'Kaffemühle' genannten Staatstheater, mit Albin Skoda in der Titelrolle, Ewald Balser als Posa und Theodor Loos als Philipp. Eifrig wühlte ich in den Bänden von 'Velhagen und Klasings Monatsheften', die meine Eltern wohl gleich nach der Hochzeit abonniert hatten - jedenfalls begannen die kompletten kostbar gebundenen Jahrgänge mit dem Jahr 1912. Hier suchte ich vor allem nach Schauspielkritiken, lernte auf diese Weise Inszenierungen von Reinhardt, Piscator, Fehling und anderen kennen. Nebenbei las ich dann auch noch Novellen von den vielen jüdischen Schriftstellern der Systemzeit und verschaffte mir so literaturgeschichtliche Kenntnisse, die unserem zwar sympathischen, jedoch stramm nazistisch orientierten Studienrat Gall wohl nie begegnet sein dürften. Eine Kritik ist mir noch in Erinnerung geblieben, es war der Verriß eines Stückes von Klaus Mann, in dem außer dem Autor Erika Mann, Pamela Wedekind und ein 'mäßig begabter Schauspieler namens Gustav Gründgens', erwähnt waren. Das muß 1929 oder 1930 gewesen sein.

Diese Interessen und eine angenehme Baritonstimme machten mich zu einem recht brauchbaren Mitglied der Rundfunkspielschar. Freund Hannes Ewald nahm ich mit, obwohl er weder musikalisch noch rezitatorisch etwas vorzuweisen hatte, was er jedoch geschickt kaschieren konnte.

Daß ich als Mitglied dieser Rundfunkspielschar eigentlich ein Propagandainstrument der Nazis bediente, hat mich damals wohl nicht mehr gestört. Ich konnte vorm Mikrophon deklamieren und singen, außerdem konnte ich mein Taschengeld durch kleine Reportagen  aufbessern. Anläßlich einer Staatsjagd für das konsularische Corps interviewte ich sogar den Senatspräsidenten Greiser, der nicht schlecht gestaunt hätte, wenn er gewußt hätte, wer ihn da ausfragt. Einmal hatten wir die sogenannte deutsche Trauung des HJ-Gebietsführers und Oberschulrats Schramm im Danziger Rathaus zusammen mit der weiblichen Rundfunkspielschar künstlerisch zu umrahmen. Es ging alles furchtbar blut- und bodenmäßig und zackig zu. Die Leiterin der weiblichen Spielschar, ein nettes Mädchen, das beim BDM (Bund deutscher Mädel) schon einen höheren Rang einnahm, gestand mir vertraulich, unter dem Eindruck dieser Trauung hätte sie beschlossen, sich später doch kirchlich trauen zu lassen. Einmal hatten wir eine Sendung zu 'Führers Geburtstag' zu gestalten. Die Einstudierung übernahm der Rundfunkintendant persönlich. Wie üblich fiel mir die Rolle als Sprecher zu. Ich kann mich noch heute an die Regieanweisung des Intendanten erinnern: "Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf einer Straße und dann um eine Ecke und ganz plötzlich steht der Führer vor Ihnen." Dann hatte ich ein Gedicht zu sprechen, dessen erste Strophe so lautete:

'Mich traf dein fordernd Anruf eben
als ich an mir verzweifeln wollt
Was alles hast du mir gegeben
Nimm mich doch ganz in deine Huld'
Ich finde, dieser Vers, wohl besser als ein Gebet aufzufassen, gibt mehr Aufschluß über den nationalsozialistischen Mythos als manches dicke Buch zu diesem Thema. Hitler, der persönliche Erlöser. Die Bedeutung dieses Textes war mir damals durchaus bewußt. Ich habe ihn dennoch, wahrscheinlich recht pathetisch, wie damals Mode, deklamiert. War ich ja doch nur ein Schauspieler, der sich den Text nicht aussuchen konnte, den er zu sprechen hatte.

Einmal sind wir auch mit beiden Spielscharen zu einem Treffen nach Berlin gefahren. Ich bekam so Baldur von Schirach, den Reichsjugendführer und auch den Reichspropagandaminister Josef Goebbels zu sehen. Das war wenig wichtig. Wichtig war, daß einer unserer begabtesten und engagiertesten Spielscharmitglieder zu seinem Kummer nicht mitdurfte. Wegen einer spinalen Kinderlähmung war er leicht gehbehindert. Das genügte; ein 'Krüppel' wurde nicht vorgezeigt. Das wichtigste persönliche Erlebnis dieser Reise war freilich, daß mich ein hübsches BDM-Mädchen mit den Worten: "Du da, mit dem Kußmund!" anmachte, wie man heute sagen würde. Ich war immer noch zu blöde, darauf einzugehen, doch immerhin schien ich für Mädchen interessant zu werden.

Meine Abneigung gegen den Nationalsozialismus änderte sich nicht. Doch blieb man weiterhin Deutscher und als solcher empfand man weiterhin den Versailler Vertrag als Schande und die Trennung Danzigs vom Reich als Unrecht. Auch wenn wir gegen die Polen, die als Erntearbeiter, als Eisenbahnpersonal, Wochenmarktbelieferer, auch als Zoppoter Kurgäste mit uns in Berührung kamen, keinerlei persönliche Antipathien entwickelten.

Für das gespaltene Bewußtsein auch derer, die in Opposition zum Nationalsozialismus standen, mag eine Familiendebatte stehen, die sich entspann, als das Saarland 1935 'Heim ins Reich' geholt wurde, wie es im Naziton hieß, sich also über neunzig Prozent der Bevölkerung für den Anschluß an Deutschland entschieden hatten. Wir als Danziger mit dem gleichen Trennungsschicksal behaftet, freuten uns mit den Saarländern. Alle Straßen, auch die in Zoppot waren reich beflaggt. Nach langem Hin und Her kauften wir uns eine Hakenkreuzfahne im Format eines kleineren Handtuches und befestigten diese an unserem Balkon. Es war das einzige mal, daß wir je geflaggt haben.

Was schwebte eigentlich meinem Vater und seinen Freunden als Zukunftsvision vor, wenn die Naziherrschaft einmal überwunden sein würde? Zu unseren engsten Freunden gehörte das Ehepaar Prill. Hilde Prill, von meiner Mutter liebevoll 'die kleine Frau' genannt und von Bruder Wolfgang und mir pagenhaft verehrt; Felix Prill, Regierungsrat in der Finanzverwaltung und damals als bekennender Katholik und Zentrumsmann ohne Aufstiegschancen.

Es muß so um 1940 gewesen sein, als Felix mir auf einem Spaziergang versicherte, daß für ihn und seine Freunde so eine 'Quatschbude' wie ein Parlament nicht mehr in Frage käme. Die Parteien hätten sich als unbrauchbar erwiesen, eine staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Was ihm und seinen Freunden vorschwebte, war die Wiedererrichtung des vorrevolutionären Ständestaates im Sinne der päpstlichen Enzykliken 'Rerum novarum' und 'Quadragesimo anno'. Wie hieß doch ein damals noch geläufiger Abzählvers: 'Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann'.

Felix Prill beendete seine Nachkriegskarriere als deutscher Botschafter in Irland.

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Last Update: 24.02.2005