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4Mein Vater war Teilnehmer des ersten Weltkrieges, zum Schluß als Ordonnanzoffizier. Da er bei seinem vierjährigen Fronteinsatz niemals verwundet worden war, galt er schon als 'kugelfest'. In den letzten Tagen des Krieges wurde er jedoch schwer verwundet. Ein Querschläger riß ihm den Nasenrücken weg und zerstörte das rechte Auge. In dreizehn plastisch-chirurgischen Operationen wurde sein Gesicht wieder einigermaßen hergerichtet. Diese Arbeit muß eine ärztliche Pioniertat gewesen sein, denn der ausführende Arzt, Professor Lexner, hat sie in einem Lehrbuch ausführlich beschrieben. Zwischen den Operationen muß Vaters Gesicht damals sehr verwüstet ausgesehen haben. Jedenfalls fürchtete meine Mutter bei meiner Zeugung, sie könnte sich 'versehen' haben. Das Gesicht, das sie erschauern ließ, habe sich bei ihr so tief in die Seele eingeprägt, daß auf dem Gesicht des gezeugten Kindes die gleiche Verwüstung sich darstellen könne. So nahe stand noch das Magische dem mythisch-katholischen Denken! In dieser Verwundung liegt wohl auch der
Keim dafür, daß die Ehe meiner Eltern nicht sehr glücklich
wurde. Mutter war sehr ästhetisch, durchaus Dame und gnädige
Frau, genoß sehr die Anrede "Frau Doktor" und später "Frau
Senator". Doch eine Bemerkung in ihrer Aufzeichnung, 'Begleiterscheinungen
der großen Verletzung störender Art mußten hingenommen
und ertragen werden', wie auch die Vorstellung, sich versehen zu haben,
deuten auf ihre ästhetische Kränkung hin. Mein Vater hingegen
mußte sich wohl beweisen, daß seine Anziehungskraft ungebrochen
geblieben war. Sie war es tatsächlich. So kam es schrittweise zur
seelischen Entfremdung, während bis 1945 der äußere Rahmen
erhalten blieb. Hinter Mutters heiterer und lebendiger Oberfläche verbarg sich Strenge, ja Härte. Mein ältester Bruder Klaus stotterte. Die Mutter führte es auf eine Krankheit zurück, andere eher auf eine ungeduldige Erziehung, die auch bei dem kleinen Buben vor Schlägen nicht Halt machte. Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt, als ich mit zwei Spielkameraden, beides Söhne von Hausmeistern in der Nachbarschaft, einen Pfirsichbaum mit reifen Früchten plünderte. Als die Eigentümerin herbeilief, konnten meine flinken, barfüßigen Freunde fliehen, ich aber wurde erkannt. Gewiß war es schwer, in unserem Klima einen Pfirsichbaum hochzuziehen. Meine Mutter hat mich jedoch nicht nur ungeheuerlich mit einem Stock verprügelt, sondern mir eine Zukunft als Verbrecher vorausgesagt. Schluchzend entfloh ich in den Garten unter einen großen Strauch und aß unter Tränen die Pfirsiche auf, die ich wohlweislich dort versteckt hatte. Sie konnte einen durch Schweigen wochenlang zermürben, bis man zu Kreuze kroch. Wenn ich ihre Normen überschritt, war sie schnell bei der Hand von Verbrechen und Verbrechern zu reden. Als ich kaum eine Stunde nach ihrem Tode an ihr Bett trat, war nichts mehr da von rosiger Lieblichkeit, sondern da war ein herbes, ja strenges, dafür aber klares Gesicht. Ein Gesicht, bei dem man wußte, woran man war. Während ich mich nicht erinnern kann, als Kind auf Mutters Schoß gesessen zu haben, ist es eine der schönsten Kindheitserinnerungen, wie ich auf dem Schoß des Vaters sitze und wir zweistimmig alle möglichen Volkslieder singen. Einfach nur so. Ich habe zwei oder dreimal eine richtige Tracht Prügel von ihm bezogen, wohl immer dann, wenn ich mal wieder fürchterlich gelogen hatte. Die Exekution tat dem Hintern weh, nicht jedoch der Seele; denn erstens war auch mir einsichtig, daß hier etwas geschah, was ich selbst verschuldet hatte, zweitens war damit ein Vorgang abgeschlossen, aus dem ich selbst nicht mehr herausgefunden hätte, und drittens merkte ich meinem Vater an, daß er die für notwendig erachtete Maßnahme selbst verabscheute und froh war, nun wieder normal, das heißt herzlich mit uns umgehen zu können. Als ich mit dreizehn so schwierig wurde, daß meine Mutter meinte, nur noch ein strenges Internat könne mich auf den Weg der Tugend zurückbringen, antwortete ihr mein Vater, beide hätten ihre Kinder nicht in die Welt gesetzt, um sie von anderen erziehen zu lassen. Das müßten sie schon selber schaffen. Er hatte es natürlich auch einfacher, denn sein Amt ließ ihm wenig freie Zeit. Vater war Pragmatiker, hochintelligent, konnte Homers Gesänge seitenlang griechisch auswendig zitieren, aber er war nicht eigentlich geistig und schon gar nicht intellektuell. Wenn er eine Kunstausstellung eröffnen sollte, gab er offen zu, von Kunst wenig zu verstehen und übergab das Wort einem Fachmann. Ich erinnere mich, wie er ein Flugzeug auf den Namen 'Ikarus' zu taufen hatte: Dabei glänzte er mit Kenntnissen griechischer Mythologie, um am Schluß den beeindruckten Zuhörern tröstend zu versichern, er habe das alles auch erst am Vortage dem Konversationslexikon entnommen. Das Gerücht, daß er als reifer Mann noch die Riesenwelle am Reck beherrscht habe, kann ich nicht bestätigen. Er war ein guter Redner und machte sehr nette Gelegenheitsgedichte. Mit einer Damenrede in Versform beeindruckten später noch seine inzwischen erwachsenen Söhne. Er war meiner Mutter nicht treu, verwöhnte sie jedoch mit liebevoll ausgesuchten Geschenken. Das Urvertrauen, das mich in den schwersten Krisen meines Lebens nie ganz verlassen hat, verdanke ich sicher auch der liebevoll sentimentalen Zuwendung, die die Mutter ihrem 'Süßen' zukommen ließ, bis der Bruder durch die Amputation ihm diese Position streitig machte. Aber sicher nicht weniger meinem lebensklugen verläßlichen Vater. Die geistigen und künstlerischen Interessen hat jedoch meine Mutter sehr früh in mir und meinen Brüdern erweckt und gefördert. |
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