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Wenn die Schule eine, wie meine Mutter
meint: 'zu überstehende Pflicht' war, so kann das für meine Brüder
gelten. Ich hingegen habe die Schule gehaßt. Sie hat mir einen Großteil
meiner Kindheit vergällt. Schon der erste Versuch, mich mit fünfeinhalb
Jahren einzuschulen, ist kläglich gescheitert. Man hat mich unter einer
Bank hervorgeholt, unter der ich daumenlutschend saß und darüber
klagte, daß es hier zu laut sei. An die Volksschule in Breslau habe
ich nur alptraumartige Erinnerungen. Ich, auf der letzten Bank, vorne eine
strenge, ja sadistische Lehrerin, deren pädagogisches Ideal es gewesen
sein muß, vor Unterrichtsbeginn sich einen Jungen der Klasse herauszuholen,
wahrscheinlich einen aus der ärmeren Bevölkerung, und ihn unbarmherzig
mit dem Lineal zu versohlen. In Zoppot kam ich nur für ein halbes Jahr
in die dritte Klasse zu dem ganz netten Lehrer Reis, der uns bessere Schüler
in einer Förderklasse auf die Oberschule vorbereitete. Mit neuneinhalb
Jahren trat ich in das Zoppoter Realgymnasium über. Ich habe mich meiner
schlechten Schulleistungen eigentlich immer etwas geschämt und begreife
sie in dem Augenblick, an dem ich dieses niederschreibe, zum ersten Mal. Ohnedies
mehr Träumer und Phantast, dazu stark kurzsichtig und auch nervös,
dennoch in der Volksschule einer der Klassenbesten, müssen die Anforderungen
in der Oberschule als eine niemals zu bewältigende Überforderung
über den Neuneinhalbjährigen hereingebrochen sein. Mal da mal
dort kam ich nicht mit, schaffte die Hausaufgaben nicht, mußte lügen,
ich hätte sie zuhause vergessen. So darf ich unterstellen, daß
dem viel zu früh eingeschulten Gymnasiasten einfach der Unterbau gefehlt
hat, auf dem sich eine einigermaßen erfolgreiche Schülerkarriere
hätte aufbauen lassen. Wir drei Brüder waren wohl alle Spätentwickler.
Bei mir kam noch hinzu, daß man erst beim Eintritt in die Volksschule
meine schon damals starke Kurzsichtigkeit bemerkte. Ich muß also als
Kind nie etwas genau gesehen, mir vielmehr eine Welt geschaffen haben, in
der ich mich durchaus wohl fühlte, die jedoch eher aus Gebilden der
Phantasie bestand. So habe ich bis heute Probleme etwas zu finden und Realität
genau wahrzunehmen, während es mir damals wie heute leicht fällt,
aus der Wirklichkeit in die Phantasie überzuwechseln und mich dort zu
erholen. Psychoanalytische Kollegen werden vielleicht fragen, wo denn da
das 'wahre' und das 'falsche Selbst' zu finden sei. Jedenfalls hat die Phantasie
mir in allen späteren Berufen, sei es als Schauspieler, Lehrer oder
Psychoanalytiker geholfen. Sie steht mir jedoch im Wege, wenn es darum geht,
streng wissenschaftlich zu abstrahieren, also Theorien zu entwickeln und
darzustellen. Meine psychologischen Gutachten geraten mir eher zu Novellen,
was schon Urvater Sigmund Freud 'eigentümlich' berührt hat. Auch
seine Krankengeschichten seien 'wie Novellen zu lesen', wofür er die
'Natur des Gegenstandes' verantwortlich machte (Ges. Werke Bd. 1 S.227).
Bruder Wolfgang, drei Klassen über
mir, war auch keine große Leuchte, hatte aber eine technisch-mathematische
Begabung, die mir bis heute völlig abgeht. Dennoch konnte ich mich
bis zur Obertertia durchquälen, wo es mich dann endlich erwischte. Mit
einem Haufen 'mangelhaft' nahmen mich meine in diesem Falle unvernünftigen
Eltern von der Schule und schickten mich in eine Presse zu einem Fräulein
Herrmann, bei der ich mit Leidensgenossen von morgens bis abends büffeln
mußte. Dann schulten sie mich nach einem halben Jahr in die nächsthöhere,
also meine alte Klasse, nun Untersekunda wieder ein. Diese Roßkur
hat Gott sei Dank nicht geholfen. Ich blieb nun endgültig sitzen und
hatte somit die Möglichkeit, in Ruhe ein bißchen aufzuholen. In
dieser Zeit glänzte ich schon in den Fächern Deutsch und Geschichte,
die mich wirklich interessierten, war ein guter Sportler und musikalisch.
Das zählte bei den Nazis einigermaßen.
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