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Auf der Offiziersschule Potsdam-Eiche gab es nun die schöne Möglichkeit, viele Wochenenden in Berlin zu verbringen. Auf einem Vormittagsbummel sprachen Hannes und ich zwei Mädchen an. In eines dieser Mädchen verliebte ich mich sofort unwiderruflich. Das lag vor allem daran, daß sie meiner Lieblingsschauspielerin Luise Ullrich ähnlich sah. In der Titelrolle der Knuth Hamsun-Verfilmung 'Viktoria' hatte sie mich schon begeistert; hingerissen jedoch war ich von ihr in dem Film 'Regine'. Sie spielte darin ein einfaches Mädchen, in das sich ein Angehöriger höherer Kreise verliebt, und das sich nun rührend bemüht, sich ihm durch Aneignung von Wissen anzugleichen. Von ihrem Liebhaber und späteren Ehemann jedoch erfuhr sie, daß gerade ihre unverbildete Natürlichkeit das war, was er so an ihr liebte. Auch diese Konstellation war unserer Beziehung nicht ganz unähnlich. Der Reiz dieser Schauspielerin lag in einem zarten Eros, der jedoch gleichzeitig so abgehoben war, daß es der Phantasie gar nicht möglich wurde, sie sich als Objekt sexueller Begierde vorzustellen. Sie wirkte gleichermaßen sicher und schutzbedürftig, war somit ideales Übertragungsobjekt für einen verklemmten jungen Menschen, der verehren und beschützen wollte, sich jedoch eine wirkliche sexuelle Partnerschaft noch gar nicht richtig vorstellen konnte und ihr deshalb natürlich auch nicht gewachsen war. Das junge Mädchen, das ich kennengelernt hatte, war jedoch nur äußerlich jener Frauentypus. In Wirklichkeit war sie dem flapsig flotten, im Inneren dank neudeutscher Erziehung immer noch unsicheren Fähnrich an Erfahrung weit überlegen.

Ich erinnere mich noch eines Gespräches, in dem mein Vater mich umzustimmen suchte. Er meinte, statt eines Mädchens aus so einfachen Verhältnissen hätte ich wohl doch Anspruch auf eine ostpreußische Gutsbesitzerstochter, so jedenfalls stelle er sich meine gesellschaftliche Zukunft vor. Wegen des zu erwartenden Kindes jedenfalls bräuchte ich nicht zu heiraten. Er wäre bereit, bis ich selbst dazu in der Lage sei, die Alimente zu übernehmen. Ich habe sein Angebot zurückgewiesen. Auf seine etwas abschätzige Bemerkung "Na, die Hochzeit werde ich wohl auch bezahlen müssen", schlug ich ihm einen Besuch des Zoppoter Spielcasinos vor. Er verlor 800 Mark und ich gewann 2000. Dieses Problem war jedenfalls gelöst. Als wir am ersten Mai 1943 heirateten, war Hannes Ewald Trauzeuge und der Studentenpfarrer Schmidt vollzog die Trauung. Es handelte sich um eine Kriegsheirat, getragen wohl auch von der Vorstellung, draußen an der Front jemanden zu haben, zu dem man mit intensiven Gefühlen hindenken konnte. Meiner sehr jungen Frau gelang es, sich durch Liebenswürdigkeit auch bei meiner skeptischen Familie beliebt zu machen. Sie war zudem lernbegierig und bemüht, ihre einfache Bildung mit dem anzureichern, was bürgerliche Familien als unverzichtbar ansahen.

Verliebtsein macht unfähig, das Objekt der Begierde real wahrzunehmen. Verliebtsein ist deshalb die 'schönste Neurose der Welt'. Oft gelingt es dem Bedürfnis, ideale Vorstellungen gegen alle Realität zu verteidigen, bis diese so unübersehbar wird, daß man schließlich doch gezwungen ist, die rosarote Brille endlich abzusetzen. Doch wer sich an einer Stelle weigert, wirklich hinzuschauen, dessen Blickwinkel droht überhaupt enger zu werden, was den eigenen Reifungsprozeß lange verzögern kann. Bei mir bedurfte es der Lehranalyse um als Vierzigjähriger das pubertäre idealisierte Wunschdenken zu überwinden und Beziehungen so wahrzunehmen, wie sie nun einmal sind. Daß dabei auch gleich mein Kinderglaube mit unterging, war wohl nicht zu vermeiden.

Doch bevor es zur Heirat kam, war noch eine schwere Aufgabe zu bewältigen. Meine Liebe zu Ursula, der Tochter des befreundeten Zahnarztehepaares, hatte die Tanzstundenzeit nicht überdauert. Sie war an Anämie eingegangen. Welche Anstrengungen, auch nur einmal ein Küßchen zu ergattern, wehe der Hand, die es wagte, sich von der Hüfte auch nur ein bißchen abwärts oder aufwärts zu bewegen. Es gab nicht mal einen Abschied. Wovon auch.

Mein Vater, der bei seiner Zwangspensionierung erst fünfzig Jahre alt war und ohne Aufgabe nicht leben konnte, hatte sich an einem Kunsthandwerksgeschäft beteiligt, das von seiner damaligen Geliebten und späteren Lebensgefährtin betrieben wurde. Dort hatte ich noch als Pennäler das Mädchen kennengelernt, von dem es nun hieß, Abschied zu nehmen. Simone war die Tochter eines jüdischen Apothekers aus Insterburg. Wohl weil sie Halbjüdin war, ist ihr der Zugang zur höheren Schule verwehrt geblieben. So verdiente sie sich ihren Unterhalt als Bürokraft. Sie hatte mich - das altertümliche, vielleicht abgedroschene Wort sei hier gebraucht - von Herzen geliebt. Von meinem Vater hatte ich gelernt, wie man Frauen verwöhnt, zum Beispiel indem man ihnen ungesagte Wünsche von den Augen abliest. Auch mir machte das Spaß. Daß sie Halbjüdin war, hat sie mir später, ich war schon Soldat, gestanden, tief besorgt über die Wirkung, die dieses Geständnis auf mich haben könnte. Meine Reaktion war etwa so: "Ach du Ärmste, das muß schwer für dich sein. Aber was hat das mit uns zu tun." Die freie Liebe war in bürgerlichen Kreisen damals gar nicht so einfach zu praktizieren. Simone bewohnte ein Zimmer beim Oberregierungsrat Schulz in unserer Nähe. Selbst ein Krankenbesuch wurde genauestens überwacht. Wenn die Eltern mal verreist waren, schmuggelte ich sie in mein Zimmer, am Morgen wurde dann das Mädchen - Ida hatte indessen geheiratet, das neue hieß Viktoria - mit Schokolade zur Schweigsamkeit bestochen. Oder wir schmusten bei ihrer Freundin auf deren Zimmer. Diese stammte aus Simones Heimat, wußte über sie Bescheid, was sie, obwohl als BDM-Führerin sonst glühende Verehrerin Hitlers, nicht hinderte, weiter der Freundin die Treue zu halten. Während wir miteinander schmusten, schaute sie brav und geduldig aus dem Fenster. Simone erlaubte und erwiderte alle Zärtlichkeit, die im Rahmen bürgerlicher Sexualvorstellungen dieser Zeit möglich waren. Nur den Liebesakt selbst ließ sie nicht zu, obwohl ich merken durfte, wie gerne sie sich mir hingegeben hätte. Sie hoffte nämlich, wenn sie ihre Unberührtheit bewahrte, einmal 'Ehrenarierin' werden zu können.

Ich glaube nicht, daß diese Vorstellung überhaupt einen Sinn hatte. Göring soll einmal über den nichtarischen Fliegergeneral Milch geäußert haben: 'Wer Jude ist, bestimme ich!' Aber 'Ehrenarier', das hat es nie gegeben. Sie jedoch klammerte sich an diese Vorstellung. Weder zur einen noch zur anderen Gruppe gehörend, erlebte sie ihren jüdischen Teil, wie die Nazis es taten, als minderwertig. Welch verfluchtes System, das ein junges Mädchen in solch einen selbstzerstörerischen Konflikt stößt!

Mit ihr also saß ich an einem Spätherbstabend auf einer Bank an der Spitze des Zoppoter Seestegs und brachte ihr schonend bei, daß ich nun eine andere liebe und im Frühjahr heiraten würde. Sie nahm es schweren Herzens hin, meinte nur zaghaft, ich bräuchte sie deswegen doch nicht ganz aufzugeben, sie wäre auch bereit, die zweite Rolle in meinem Leben zu spielen. Ich erzählte diese Äußerung später meinem Vater, worauf er sinngemäß sagte: "Es scheint eben doch zu stimmen, wenn man die Juden vorne rauswirft, kommen sie hinten wieder rein." Diese Äußerung war, auf Simone bezogen, eine Gemeinheit und ich schäme mich sehr, sie damals nicht zurückgewiesen zu haben. Aber antisemitisch war sie nicht. Sie stimmte nämlich. Wir hatten selbst ja mehrfach erlebt, wie Juden, die vor den polnischen Pogromen im Osten nach Westen ausgewichen waren, mit Warenkörben auf dem Rücken vor unserer Haustür erschienen und mit unglaublicher, jede Würde außer Acht lassender Zähigkeit versuchten, uns ihre Ware zu verkaufen. Was konnten abfällige Bemerkungen ihnen schon antun. Den Christen gegenüber konnte ein Angehöriger des auserwählten Volkes Gottes durch keine Herabsetzung, ja selbst durch Mißhandlung seine Würde nicht verlieren. Übrigens lösten diese chassidischen Ostjuden schon durch ihr wirklich fremdartiges Aussehen Unbehagen und für ein Kind auch Angst aus.

Religiöser Fanatismus ist mir wesensfremd. Ich habe ihn als Kind nicht kennengelernt und stehe ihm voller Mißtrauen gegenüber. Ideologische Zwänge, die das freie Denken und Leben einschränken oder gar verbieten, finde ich abstoßend. Ob das jüdische Orthodoxie, islamischer Fundamentalismus, Opus Dei oder pseudoreligiöser Sozialismus bzw. Faschismus sind. Alle diese Denkungsweisen sind mir gleichermaßen fremd. In dem schönen Buch 'weiter leben, eine Jugend' von Ruth Klüger wird die Jüdin, die in Amerika ein Kolleg besucht, von einer Kommilitonin gefragt, welcher Nationalität sie denn sei. 'Ihr gab ich die einzig mögliche Antwort: Ich sei Jüdin, in Österreich geboren. Dann sei ich eigentlich Österreicherin, konstatierte sie, mein Glaube hätte nichts mit meiner Staatsangehörigkeit zu tun'. Und später dann: 'So denken wir nicht in den Vereinigten Staaten. Bei uns sind Kirche und Staat getrennt'. Diese Feststellungen mußten der Verfasserin, die deutsche KZ's mehr zufällig als schicksalhaft überlebt hatte, absurd erscheinen. Ich hätte damals, 1942, genauso naiv antworten können. Es gab für mich Katholiken, Protestanten und Juden. Natürlich waren das alles Deutsche, jedenfalls wenn deutsch ihre Muttersprache war. Wir Danziger waren ja auch keine Deutschen, jedenfalls nicht bis zum Anschluß.

In Danzig waren 3,6 Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens. Das waren ungefähr 15.000 Menschen. Mehr als die Hälfte aller Danziger Ärzte und mehr als 90 Prozent aller Rechtsanwälte jedoch waren Juden. War das eine jüdische Verschwörung? Hievte ein Jude den anderen in seinen Beruf, obwohl er sich dabei einen Konkurrenten herangezogen hätte?

Es waren und sind die analytischen Fähigkeiten, die dieses Volk auszeichnen und es zu Berufen in den Naturwissenschaften, dem Rechtswesen und der Philosophie befähigen. Es wird gesagt, das läge daran, daß jüdische Kinder schon mit drei Jahren lesen lernten, mit dem einzigen Ziel, das Deuten der Thora einzuüben. Daraus wäre über die Jahrhunderte eine genetische Prägung entstanden. Der Jude Freud war kein Zufall, genausowenig wie der Jude Einstein und der Jude Marx. Es kommt nicht darauf an, ob sie alle letzten Endes mit ihren Theorien Recht hatten, sicher ist, daß sie damit die Welt verändert haben. Man zähle die Nobelpreisträger jüdischer Herkunft und setze sie in ein Verhältnis zur jüdischen Weltpopulation. Das Problem Ruth Klügers in ihrem Gespräch mit der amerikanischen Kommilitonin, hat Freud 1926, schon damals rassistischem und nationalistischem Druck ausgesetzt, etwa so formuliert: "Meine Sprache ist deutsch, meine Kultur, meine Erziehung sind deutsch, ich hielt mich geistig für einen Deutschen, bis ich das Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte. Seit dem ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen." Wenn wir Analytiker die Frage stellen: "Gibt es eine jüdische Psychoanalyse?" tun wir genau das, wessen Freud seine Verfolger anklagt. Wir stellen ihn und seine Wissenschaft, ohne es zu merken, in eine jüdische Ecke, die es eigentlich nur in den Köpfen dumpf atavistischer Rassisten geben sollte. Interessant und tragisch, daß die Zionisten sich hier mit den arischen Rassisten treffen. Auch sie gehen von einer jüdischen Rasse aus, die sich von anderen grundsätzlich unterscheidet.

Nein, Freud war Deutscher, genauer Deutschösterreicher, die Psychoanalyse ist eine Schöpfung deutschen Geistes, erdacht von einem Deutschen jüdischer Herkunft. Sie wurzelt tief im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts, ohne das sie wahrscheinlich nie entstanden wäre. Sie ist wie viele wissenschaftliche Erkenntnisse vergangener Zeiten eine Synthese deutscher Gründlichkeit und jüdischer Geistesschärfe. Diese Synthese hat Deutschland an die Weltspitze in fast allen Wissenschaften, einschließlich der Philosophie gestellt. Das ist nun vorbei, 'Ihr Blut komme über uns und unsere Kinder'. Die Weltgeltung deutschen Geistes ist verspielt, nach Expertenmeinung wird die deutsche Wissenschaft in eine unbedeutende zweistellige Position absinken, während deutsche Juden und deren Nachkommen die amerikanischen Wissenschaften an die Weltspitze befördern halfen.

Mir jedenfalls hatte der Jude Dr. Abraham als Säugling das Leben gerettet, der Jude von der Reis den entzündeten Blinddarm entfernt, unsere jüdischen Nachbarn in Breslau dem Achtjährigen einen unvergeßlichen Eindruck über das Feiern eines jüdischen Festes vermittelt, mein Spielgefährte in den ersten Klassen des Gymnasiums war der Sohn des Rabbiners, der obwohl er ein wunderbares Judengesicht hatte, natürlich auch Deutscher war, solange man ihn ließ.

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Last Update: 24.02.2005