Was haben diese Tendenzen mit (unserer) Schule zu tun ? Wie wirken sie sich auf meine Arbeit aus?

Eine Vorbemerkung: Aus meiner Sicht haben alle diese Folgen ein doppeltes Gesicht - sie beinhalten Gefahren und Chancen. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen.

Folge und Bestandteil der tiefgreifenden strukturellen Veränderung in der Arbeitswelt ist eine Veränderung der Qualifikationsanforderungen.

Die erste durchgreifende Konsequenz war am Beginn der zweiten wissenschaftlich-technischen Revolution die quantitative Ausweitung der oberen Schul - und der Universitätsabschlüsse gegenüber den Haupt- und Realschulschulabschlüssen. Diese Entwicklung, die seit Anfang der 70er Jahre stattfindet, war zum einen Ergebnis der Anforderungen aus der Wirtschaft. Es entsprach aber auch der von gewerkschaftlicher und bildungsreformerischer Seite vorgetragenen Forderung nach mehr Chancengleichheit im Bildungswesen. Die Tatsache, dass heute über 30 Prozent eines Altersjahrgangs Abitur macht, ist eine der nachhaltigsten Veränderungen des Gymnasiums. Die SchülerInnen rekrutieren sich aus mehr sozialen Milieus und bringen teilweise weniger Vorwissen aus den Familien mit (wobei trotz allen gegenteiligen Beteuerungen der Anteil der Kinder aus Arbeiter - und unteren Angestelltenfamilien nach wie vor relativ gering ist, an Universitäten sogar rückläufig), die Bandbreite der Leistungsfähigkeit wächst, was den Zwang zu innerer Differenzierung erhöht. Manche KollegInnen reagieren darauf in erster Linie so, daß sie den "Niveauverlust" beklagen. Auch hier ist die Frage, ob es etwas hilft, wenn ich es beklage, daß ich bestimmte Klausuren, die ich noch vor 10 Jahren stellen konnte, heute nicht mehr stellen kann oder, ob ich dies als Ergebnis eben dieser Veränderung betrachte, die nicht mehr reversibel ist.

Nachdem die quantitative Ausweitung weitgehend abgeschlossen scheint - die Zahlen stagnieren im Prinzip auf dem hohen Niveau[1] - werden in der jetzigen Phase der zweiten wissenschaftlich - technischen Revolution von Seiten der Wirtschaft qualitative Aspekte der Schul- und Hochschulbildung in den Vordergrund gerückt. Die Stichworte sind bekannt: Interdisziplinarität, Teamfähigkeit, Sozial- und Methodenkompetenz. Dies sind - wenn auch aus Sicht der Wirtschaft primär unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit vorgetragen - Forderungen, die von bildungsreformerischer Seite seit langem bestehen. Deshalb sehe ich in dieser Situation erneut, die Möglichkeit Reformschritte durchzusetzen, wenn wir uns dem Prozess nicht nur verweigern, sondern in ihn einsteigen und damit seine inhaltliche Ausrichtung mitgestalten.

Hinzu kommt: Wenn es meine Aufgabe ist, Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen, sich in dieser beschriebenen Welt zurechtzufinden, dann muß auch ich versuchen, wenigstens die wichtigsten Neuerungen in meinen Fächern - soweit sie schulrelevant sind - zu verfolgen. Wenn sich aber das menschliche Wissen in fünf Jahren verdoppelt, dann wird der Zwang zur kontinuierlichen Fortbildung immer stärker - und das im Bewußtsein, daß der Zwang zur Auswahl, zur Schwerpunktsetzung gleichzeitig wächst. Aber: Neues lernen macht ja auch Spaß.

Neben den Entwicklungen, die es in meinen Fächern gibt, wird fächerübergreifend, weil gesellschaftsübergreifend der Umgang mit dem Computer als Medium und dem Internet als Informations- und Kommunikationsquelle immer bedeutsamer. Hieraus entsteht die Notwendigkeit, mir Kenntnisse im Umgang mit dieser Technik anzueignen und gleichzeitig darüber zu reflektieren, ob und wie ich im Unterricht damit umgehe. Der Zwang besteht übrigens aus meiner Sicht auch für die, die sich hartnäckig dem Computer verweigern. Und wenn es nur darum geht, ein Referat zu bewerten, dass mit dem Computer erstellt wurde und durch ein Rechtschreibprogramm gelaufen ist und eines, dass ein Mitschüler handschriftlich verfaßt hat. Oder dann, wenn wir - wie an der Uni mittlerweile gang und gäbe, Referate bekommen, die als zitierte Quellen überwiegend Internetadressen enthalten.

Insbesondere im Bereich der neuen Medien bin ich dabei zusätzlich mit der Tatsache konfrontiert, daß Kinder damit groß werden und ich deshalb immer häufiger auf SchülerInnen treffe, die mir hier überlegen sind. Das verunsichert mich in meinem Rollenverständnis als Lehrerin, "die doch immer alles besser wissen muß".

Der Trend zu einem möglichst hohen Schulabschluß wird verschärft durch die Arbeitsmarksituation. Nachgewiesenermaßen sinkt die Gefahr - zumindestens dauerhafter Arbeitslosigkeit - je höher der Schulabschluß ist. Das führt dazu, dass Eltern , insbesondere Mittelschichteltern - auch um den Preis jahrelanger Nachhilfe und Auseinandersetzungen mit ihren Kindern - immer stärkeres Gewicht auf das Abitur legen. Das ist verständlich, weil sie bestmögliche Chancen für ihr Kind wünschen und es ist gerade in Mittelschichten - wenn auch sicher nicht immer bewußt - der Versuch, dem eigenen Kind zumindest den selbst erreichten sozialen Status zu erhalten. Es ist verständlich, auch wenn diese Entscheidung aus unserer Sicht nicht immer zugunsten des Kindes ausfällt.

Wohl in Folge verschiedener Faktoren, die oben genannt sind (Konkurrenzdruck des Arbeitsmarktes, Konsumorientierung und Verwöhnung, Rückgang der bisher verbindenden Wertegemeinschaften, vorgelebte und dort folgenlose Gewalt in Medien etc.) nehmen Tendenzen der Individualisierung zu. Dieser schillernde Begriff wird m.E. für zu viele verschiedene Phänomene gebraucht. Ich möchte hier zwei Aspekte nennen, in denen wir damit vor allem konfronitert sind.

Zum einen erleben wir die zunehmende Rücksichtslosigkeit von einigen SchülerInnen, den Rückgang an gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme - auch uns LehrerInnen gegenüber - die Tendenz zur Gewalttätigkeit etc.
Ich bin mir über das Ausmaß dieser Entwicklung übrigens nicht ganz so sicher, wie es die wiederkehrende Klage quer durch alle Medien uns vermitteln will. Nicht von der Hand zu weisen sind die wachsende Kinder- und Jugendkriminalität ebenso wie die Zunahme von Vandalismus und Gewalttätigkeit. Dennoch frage ich mich, ob es vor zwanzig Jahren wirklich soviel mehr spontane Solidarität unter GymnasiastInnen gab; und das vor allem in der Pubertätsphase, wo die Identitätsfindung ja sehr stark auch über die Abgrenzung gegenüber Anderen abläuft. Mir ist es zum Teil zu pauschalisierend, was da alles unter dem Stichwort mehr Gewaltbereitschaft subsummiert wird.
Nur - bei allen Fragezeichen- ist klar, daß wir überall da, wo diese Rücksichtslosigkeit auftritt, versuchen müssen dagegen zu halten, Grenzen zu setzen - im Umgang mit uns und den MitschülerInnen.

Zum zweiten erleben wir - zumindest bei unserer Schüler/innenklientel das Phänomen der Verwöhnung - das sich nicht nur in hohen materiellen Ansprüchen, sondern auch vielfach in einer Haltung ausdrückt, daß Anstrengung abzulehnen ist, die Lehrerin bzw. der Lehrer das zu Lernende "mundgerecht" servieren solle. Die Konsumhaltung des Alltags wird auf die Schule übertragen. Auch hier gilt es Grenzen zu setzen, die Verantwortung der Schüler/innen für den erfolgreichen Lernprozeß einzufordern.

Gerade in diesen beiden Problemfeldern müssen wir zugleich den oft erhobenen Anspruch zurückweisen, daß wir als LehrerInnen die Probleme der Gesellschaft alleine lösen können und vor allem die Eltern mit ihrer Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder konfrontieren.

Der gewaltige Anstieg des Fernsehkonsums und der vor allem bei Jungen zunehmende Gebrauch von Computerspielen mit Gewaltanteilen, der gleichzeitige Rückgang von in der Familie oder in Gemeinschaften von Gleichaltrigen verbrachten Freizeit, aber auch der Zuwachs an Lärmstress, der z.B. durch die Verkehrsdichte erzeugt wird, bringen es mit sich, daß wir die SchülerInnen als immer weniger konzentrationsfähig empfinden. Notwendig wird ein häufigerer Methodenwechsel, kürzere Phasen in der Unterrichtsstunde, mehr Freiraum zur eigenen Tätigkeit der SchülerInnen, aber auch die bewußte Anleitung zur Konzentration.


[1] Aus meiner Sicht ist die seit Jahren praktizierte Sparpolitik im Bildungsbereich nicht als Versuch zu werten, diese Entwicklung zurückzudrehen, sondern Ergebnis der durch die ausschließlich angebotsorientierte Politik mit hervorgerufenen Krise der Staatsfinanzen. Ziel ist nicht, daß weniger Jugendliche Abitur machen oder einen Hochschulabschluß erwerben, sondern, dass sie dies mit weniger öffentlichen Mitteln tun.


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