Leidbild oder Leitbild ?

Alle genannten Faktoren sind objektive, d.h. sie vollziehen sich unabhängig von unserem Willen. Die Frage ist, wie wir darauf reagieren, ob wir als LehrerInnen, als Schule Antworten suchen wollen, die es uns erlauben, gesund zu bleiben und unsere berufliche und menschliche Identität zu wahren.

Das chinesische Wort für Krise besteht aus zwei Wörtern - nämlich aus Gefahr und Chance . Die Frage ist also, ob ich alle diese Veränderungen, die mir zunächst das Leben als LehrerIn schwer machen, in erster Linie als Druck, als Bedrohung empfinde. Dann bleibt mir die Haltung des Leidens, der Abwehr, des Verleugnens. Das mag der/die Einzelne auch über einen längeren Zeitraum duchhalten. Ich kann z.B. die Forderung der Richtlinien nach der Ergänzung meiner bisherigen - sehr stark lehrerInnenzentrierten Unterrichtsmethoden - eine ganze Weile aufrechterhalten. Das kann ich tun, solange ich nicht Druck von der Schulaufsicht, den Eltern und SchülerInnen bekomme. Und ich werde es tun, solange ich unter der Nichtveränderung weniger leide, als unter der Veränderung.

Ich kann - nein hier halte ich es für notwendig von wir zu sprechen - wir können aber auch eine Haltung entwickeln, die in diesen Veränderungen, auch die Chance sehen. Die Chance - Neues zu lernen, die Chance - Altes neu zu überdenken und in diesem Prozeß als festhaltenswert - ja verteidigenswert zu erkennen - und anderes über Bord zu werfen, die Chance - uns selbst zu verändern, die Chance - auch Entlastung zu erfahren.

Das ist für mich der eigentliche Inhalt unserer Schulentwicklungs -, Schulprogramm- oder Leitbilddiskussion, wie immer das Kind heißen mag.

Damit ist zugleich der Kernpunkt meines Leitbildes von Schule formuliert:
Ich denke an eine Schule, ein Kollegium, eine Schüler - und Elternschaft, die bereit ist, sich über dieses Neue auseinanderzusetzen und es als Chance zu begreifen.
Ich habe schon einige Aspekte ganannt, die ich als Chance verstehe. Im Grunde geht es um die Chance, meine Vorstellungen von Schule in Richtung von mehr Selbständigkeit, von Verantwortung der SchülerInnen für ihren eigenen Lernprozeß und für ihr soziales Verhalten zu entwickeln.
Es geht um die Chance, selber Neues zu lernen, auszuprobieren, möglicherweise auch zu verwerfen und Altes neu zu bewerten.

Ich will hier gar nicht mehr inhaltliche Vorstellungen, von dem entwickeln, wie ich mir die Schule vorstelle, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts entspricht. [1] Das muß und wird Ergebnis eines gemeinsamen Diskussionsprozesses sein.
Ich möchte nur einige Bedingungen formulieren, die aus meiner Sicht notwendig sind, um diesen Prozess fruchtbar werden zu lassen [2]

Wir brauchen Offenheit in der Auseinandersetzung und Überwindung des individualistischen LehrerInnenbildes. Nicht im Sinne von Gleichschaltung, weil unterrichten immer auch stark eine an die Persönlichkeit gebundene Tätigkeit bleiben wird.
Aber wir müssen ein LehrerInnenselbstverständnis überwinden, daß von der Vorstellung ausgeht: "Wenn ich meine Klassen/Kurstüre hinter mir zu mache, mache ich meinen Unterricht - und was ich da mache, geht niemand anderen etwas an."
Wir müssen uns als Teil eines Systems begreifen. Es gilt: Das, was ich tue hat Auswirkungen. Es hat Auswirkungen, auf die KollegInnen, wie ich unterrichte, es hat Auswirkungen, welche Fahrten oder Projekte ich durchführe, es hat Auswirkungen, ob ich meine Aufsichten wahrnehme oder nicht. Und ich muß mir dessen bewußt sein.

Und mehr noch - die oben genannten Entwicklungen sind so tiefgreifend, sie erfordern soviel Nachdenken, daß ich das als einzelne KollegIn - eingezwängt in mein Korsett von Mehrbelastung, Korrekturen etc. gar nicht lösen kann. Also brauche ich die anderen - ich brauche Arbeitsteilung bei dem Ausprobieren und der kritischen Würdigung von neuen Unterrichtmethoden, beim Austausch von Klassenarbeiten, beim Reden über erlebte Schwierigkeiten oder auch Erfolgserlebnisse.

Wir müssen die Fähigkeit zur Kritik und Selbstkritik auch bei uns selbst entwickeln, die wir bei den SchülerInnen immer voraussetzen. Aber welcher/welche Klassenlehrer/in hat es nicht schon erlebt, daß es Eltern - oder SchülerInnenklagen gab, die einem berechtigt erschienen oder zumindest diskussionswürdig und man hat sich nicht - oder nur mit schlotternden Knieen getraut, diese weiterzugeben.? Und wieviele Kolleginnen verleben ihr Leben im Kollegium so, daß sie keine Probleme haben bzw. , wenn sie welche haben z.B., wenn eine Stunde schlecht gelaufen ist, den SchülerInnen die Schuld geben?

Wir müssen die Vorstellung aufgeben: "LehrerInnen haben vormittags Recht und nachmittags frei." Zugegeben ein populistischer lehrerInnenfeindlicher Spruch. Aber die Absage an die Vorstellung, daß ich den Unterricht "plane" in dem Sinne, daß ich alle Inhalte kenne und alle Ergebnisse - von geringen Spannen abgesehen - ist tief in uns drin. Aber ist sie nicht auch z.T. beängstigend? Ich denke, es kann befreiend sein, sich klarzumachen, dass die Vorstellung: "Wenn ich aktiv bin, sind es auch meine SchülerInnen." eine Illusion ist. Das, was manche beklagen, daß z.B. bei Gruppenarbeitsphasen bestimmte Gruppen nicht arbeiten oder nur wenig gehaltvolle Ergebnisse erbringen, stimmt. Aber sind es nicht dieselben SchülerInnen, die hier - zumindest erstmal oder auf Dauer "versagen" - die auch im lehrerInnenzentrierten Unterricht abtauchen? Ich behaupte - es fällt uns nur mehr auf, weil wir es beobachten können.

Und eröffnet es uns nicht zugleich neue Möglichkeiten, uns selbst zu entlasten, indem wir uns mehr als ModeratorInnen eines Lernprozesses verstehen, uns zeitweise zurückzunehmen, überhaupt die Zeit haben, beobachten zu können ? Ist es nicht letztlich auch für uns Kräfte schonender , gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir die Selbsttätigkeit und Verantwortung der SchülerInnen für ihren individuellen Lernprozeß und auch den der gesamten Lerngruppe steigern können, als unsere Kraft darauf zu verwenden, immer wieder um die Aufmerksamkeit aller zu kämpfen?

Dabei geht es mir nicht darum, jetzt die Gruppenarbeit oder Freiarbeit oder was auch immer als alleinseligmachende Methode anzupreisen. Es geht mir auch nicht darum, die Nutzung des Internets oder des Computers z.B. gegen die Kulturtechnik des Bücher Lesens zu setzen (lesen muß man bei der Internetnutzung übrigens eine ganze Menge). Es wird eine Mischung von alledem nötig sein. Es geht mir um die Erkenntnis, daß wir auf die Veränderungen in der Gesellschaft reagieren müssen. Und es geht mir darum, wie wir das tun.



[1] Einiges ergibt sich m.E. aus den oben dargestellten Tendenzen sehr direkt.

[2] Um den Rahmen des Artikels nicht zu sprengen, beschränke ich mich hier bewußt auf die Bedingungen, die wir selbst beeinflussen können. Wie sehr die Landesregierung und das Bildungsministerium durch alle finanziellen Restriktionen, die sich in Arbeitszeitverlängerung, Vergrößerung der Klassen, Streichung notwendiger Fortbildungen den von uns LehrerInnen geforderten Umbau der Schule zum "Haus des Lernens" konterkarriert ist hinreichend an anderer Stelle beschrieben worden. Wie sehr sich darüberhinaus viele Kolleginnen und Kollegen dadurch demotiviert fühlen daß ihre Arbeit in der Öffentlichkeit ständig nicht anerkannt bzw. diffamiert wird und unsere Vorgesetzten uns hiervor nicht schützen - sei nur am Rande erwähnt. Man stelle sich nur mal vor, der vorstandsvorsitzende eines großen Konzerns würde öffentlich und pauschal seine Angestellten als faul und unbeweglich bezeichnen!


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