Der verzehrende Ehrgeiz, alles zu erfassen
Im Mai 1999 feiern die Franzosen den zweihundertsten Geburtstag ihres großen Schriftstellers Honoré de Balzac, der vielen als der Erfinder des modernen Romans schlechthin gilt. Sein immenses Werk (mehr als einhundert Romane in rund fünfzehn Jahren, von Balzac unter dem Titel La Comédie humaine, "Die menschliche Komödie" zusammengefaßt) hat unauslöschliche Spuren in der gesamten Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts hinterlassen; einer Literaturgeschichte, die durch die Faszination seiner Zeitgenossen angesichts des prometheischen Plans und der schier übermenschlichen Energie dieses großen Autors geprägt ist. |
|
Geboren wurde er in Tours am "1. Prairial des Jahres VII" der revolutionären Zählung (20. Mai 1799), als Sohn eines hohen Versorgungsbeamten, der damals mit der Verpflegung der Truppen im Krieg gegen die aufständischen Chouans1 betraut war. Auch seine Jugendjahre verbrachte Honoré de Balzac in der idyllischen Touraine, im Tal der Loire. Bereits als Kleinkind wurde er zu einer Amme gegeben, später als Interner in das Collège de Vendôme gesteckt; davon blieb ihm das Trauma fehlender Mutterliebe, und er suchte sein ganzes Leben hindurch, zunächst bei seiner Schwester Laure, dann bei Geliebten, die wesentlich älter waren als er selbst, jenen Halt und jene Geborgenheit, die ihm in den ersten Jahren seines Lebens verwehrt wurden. Balzac war nur ein mittelmäßiger Schüler, aber eine richtige Leseratte. Seine Lektüren waren dabei keineswegs altersgemäß: Sehr früh schon entwickelte der Junge ein Interesse für die Philosophie und bildete eine geradezu geniale Beobachtungsgabe heraus. Als junger Mann studierte er in den letzten Tagen der napoleonischen Herrschaft in Paris Jura wie seinerzeit die meisten Söhne aus bürgerlichem Hause, und zweifelsohne verlor er in der stickigen Atmosphäre der Notariate und Anwaltskanzleien, in denen er seine Lehrjahre absolvierte, die ersten Illusionen über die menschliche Natur. Seine Eltern waren nicht eben erfreut, als er ihnen gestand, daß er sich zum Literaten berufen fühle. Seine schriftstellerischen Anfänge waren alles andere als leicht. Zwischen 1820 und 1828, mitten in der Aufbruchsphase der französischen Romantik, plagte sich der junge Mann mit dem Verfassen von Populärromanen unter verschiedenen Pseudonymen, schrieb Artikel für kleine Zeitungen, versuchte sich da und dort an verlegerischen Spekulationen und verschuldete sich bis über beide Ohren bei dem Versuch, eine Druckerei aufzuziehen. All diese Fehlschläge ließen ihm keine andere Wahl als wieder zur Feder zu greifen. Lange hatte er zuvor über das Beispiel des schottischen Legendendichters Walter Scott meditiert, dessen große historische Romane Quentin Durward oder Ivanhoe damals für Furore sorgten. So inspiriert schrieb Balzac im Alter von neunundzwanzig Jahren mit Les Chouans ("Die Königstreuen"), den ersten seiner Romane, den er später für würdig erachtete, in seine Gesammelten Werke aufgenommen zu werden. Zuerst die Physiologie du mariage ("Physiologie der Ehe"), eine Art "soziologischer"Essay, danach die Scènes de la vie privée ("Szenen aus dem Privatleben") weckten die Aufmerksamkeit des Publikums. Und endlich kam im Jahr 1831 der ganz große Erfolg mit dem philosophischen Roman La Peau de chagrin ("Das Chagrinleder"), in dem Balzac als Wortführer der jungen Generation, die von der Juli-Revolution 18302 enttäuscht worden war, die Herrschaft des Egoismus und des Geldes anklagte. Der Autor, der fortan seine Werke als "de Balzac" signierte und sich damit aufgrund der Aristokratie des Geistes jenes Prädikat selbst zuerkannte, das ihm die Geburt verweigert hatte, war von diesem Zeitpunkt an ein gemachter Mann. Inmitten des turbulenten Pariser Gesellschaftslebens, als gefragter Gast in allen Salons und von Zeitgeistmagazinen gerne gedruckter Autor (seine Werke erschienen zuerst als Fortsetzungsgeschichten in diesen Zeitschriften, ehe sie in Buchform publiziert wurden), mußte er sich förmlich an den Schreibtisch anketten. Drei Jahre später unterzeichnete er einen ersten großen Verlagsvertrag für die Herausgabe seiner bereits geschriebenen und noch zu schreibenden Werke in zwölf Bänden unter dem Titel Etudes de mœurs au xixe siècle ("Studien der Sitten im 19. Jahrhundert"), und entwarf als "kühner Architekt" (so Victor Hugo) einen ersten allumfassenden Plan für sein Lebenswerk. Er erfand auch das Verfahren der von Buch zu Buch wiederkehrenden Romanfiguren, wodurch er seinem Werk eine außerordentliche Tiefenstruktur zu geben vermochte. Der verzehrende Ehrgeiz, alles zu erfassen Nun folgen die Meisterwerke Schlag auf Schlag, von Eugénie Grandet bis zu Père Goriot ("Vater Goriot"), von Le Lys dans la vallée ("Die Lilie im Tal") bis zu den Illusions perdues ("Verlorene Illusionen"). Von den im Schutz der Familie begangenen geheimen Verbrechen bis zu den Trickgeschäften in den Großbanken, von den aristokratischen Salons im Faubourg Saint-Germain bis zu den Mansarden im Quartier Latin, vom letzten Zipfel der Bretagne bis zu den Tälern der Dauphiné sollte hier nach dem Vorbild von Buffons Histoire naturelle ("Naturgeschichte") (in fast 40 Bänden zwischen 1749 und 1804 erschienen) eine systematische und beinahe zoologische Erforschung aller "gesellschaftlichen Spezies" der Epoche erfolgen. Erst 1840 entschloß sich Balzac, diese umfassende, im Entstehen begriffene "Sittengeschichte" mit einem Gesamttitel zu überschreiben: La Comédie humaine, "Die menschliche Komödie". Die folgenden sieben Jahre verwendete er darauf, sie zu vervollständigen, durchzusehen und zu überarbeiten, verzehrt von einer glühenden Arbeitswut und ständig verfolgt von Schulden. Das persönliche Glück hatte ihn lange warten lassen. Nachdem er sich schon 1833 hemmungslos in eine seiner zahlreichen Bewundererinnen, die Gräfin Hanska verliebt hatte, mußte Balzac nach seinem Antrag noch acht Jahre warten, bis sie in die Heirat einwilligte. Der kranke und erschöpfte Autor starb im August 1850 sechs Monate nach dieser Hochzeit im Alter von einundfünfzig Jahren; sein papierener Monumentalbau blieb unvollendet zurück. Nadine Satiat |