Virtuose der Wirklichkeit
Am 21. Mai, dem Jahrestag des 18. Brumaire, wird auf dem Standesamt von Tours die Geburtsurkunde für Honoré de Balzac ausgestellt. Der Vater, Bernard-Francois Balzac, ist der Sohn eines Weinbauern aus der Gaskogne im Süden Frankreichs und durch die Revolution Napoleons zum Militär-Intendanten von Tours aufgestiegen. Die sehr belesene Mutter, Anne-Charlotte-Laure, geb. Sallambier, ist die Tochter von Posamentierern, die Honoré, dem ältesten ihrer vier Kinder, nur wenig Zuneigung schenkt. Bis zu seinem siebten Lebensjahr wird er einer Amme anvertraut und dann in ein Internat in Vendome geschickt, aus dem er völlig verwirrt und kränkelnd zurückkommt. Aus dem fröhlichen, unbeschwerten Kind war ein verstörter, magerer und stotternder Vierzehnjähriger geworden. Nachdem seine Gesundheit wieder hergestellt ist, zieht die Familie nach Paris, und Honoré trägt sich in die Juristische Fakultät ein. Der junge Mann ist von Paris entzückt. Stundenlang durchwandert er die verschlungenen Straßen, spaziert an der Seine entlang und besucht die Läden der zahlreichen Buchhändler. Bald schon beginnt er selbst zu schreiben. Paris ist in diesen Jahren vom Fieber der unterschiedlichsten Geistesströmungen erfaßt, und Balzac schreibt einen leidenschaftlichen Essay über die Unsterblichkeit der Seele. Er lebt jetzt wie ein Bohemien in einer winzigen Mansarde in der Rue de Lesdiguières. Was er in diesen drei Jahren zu Papier bringt, hat allerdings mit großer Literatur nur wenig zu tun. Es sind schnell geschriebene Geschichten von armen Waisenkindern, verführten Ehefrauen, Erbschleichern und finsteren Machenschaften auf geheimnisvollen Schlössern. Aber ihm geht es allein darum, Geld zu verdienen. Er flüchtet sich in eine Liebschaft mit der doppelt so alten Laure von Berny, gründet einen Verlag mit eigener Druckerei und muß das Unternehmen nach achtzehn Monaten und dem Verlust von fast 90.000 Franken an einen entfernten Cousin verkaufen. Auch sein Theaterstück "Cromwell" wird ein Reinfall. Aber Balzac nimmt neue Schulden auf, mietet sich eine ganze Etage in der Rue Cassini, stattet die Wohnung mit kostbaren Teppichen und teuren Gemälden aus. Sich selbst bestellt er einen Gehrock aus feinstem Tuch und schreibt endlich das erste seiner klassischen Werke: "Les Chouans" (Die Königstreuen). Bereits kurz darauf erringt er mit "Physiologie du Mariage" (Physiologie der Ehe) einen weiteren Erfolg. Jetzt wird er auch in die Salons eingeladen. Mit der Erzählung "Le Peau de Chagrin" (Die tödlichen Wünsche) erntet er einen neuen Triumph. Eingehüllt in ein Mönchsgewand, arbeitet er nur noch nachts. Sechzehn, siebzehn Stunden schreibt er, nur unterbrochen von einem Diener, der alle drei Stunden frischen Kaffee bringt. So entsteht die "Comédie humaine" (Menschliche Komödie), eines der größten Romanwerke der Menschheit. Balzac ist treulos. 1833 wird er der Geliebte der polnischen Baronin Eva Hanska, einer rassigen, schwarzhaarigen Schönheit, deren Ehemann ein kränkelnder Gutsbesitzer mit einem enormen Vermögen ist. Die beiden treffen sich heimlich in der Schweiz und in Wien, doch die Beziehung ist überschattet von den immensen Schulden, die Honoré belasten. Seit selbst der Kaffee ihn nicht mehr stimuliert, raucht er Opium, und im Rausch schreibt er "Les Paysans" (Die Bauern). Nach dem Tode ihres Gatten wird Eva Hanska mit 46 Jahren von Balzac schwanger, aber eine Frühgeburt macht beider Hoffnung zunichte. Balzac ist unglücklich über das vorzeitige Ende seiner Vaterschaft und Evas Weigerung ihn zu heiraten. Dennoch besucht er sie auf ihrem Gut in der Ukraine, wohl auch um seinen Gläubigern und Ärzten zu entfliehen. Zurück in Paris, gerät er mitten in die Revolutionswirren von 1848. Das Angebot der "universellen Bruderschaft", ihn auf eine Kandidatenliste der Republikaner zu setzen, lehnt er mit den Worten: "Die Republik ist eine Krankheit!" schroff ab. Wieder fährt er in die Ukraine. Doch erst als er ernsthaft erkrankt, gibt Eva ihren Widerstand gegen eine Heirat endgültig auf. Am 14. März wird die Trauung in der kleinen Sankt-Barbara-Kapelle vollzogen. Es geht ihm gesundheitlich so schlecht, daß er Angst hat, die Zeremonie nicht durchzuhalten. Sein Herz ist verbraucht, und als sie endlich nach Paris zurückkehren, ist er fast blind und kann kaum noch gehen. Es ist ein schöner Mai-Abend im Jahre 1850. Honoré ist gerade 51 Jahre alt geworden. Seit einem Jahr ist er nun mit der schönen und stolzen Eva verheiratet. Zwar genießt er jetzt völlige materielle Sicherheit, aber schreiben kann er nicht mehr. Endlich ist er mit der geliebten Frau zusammen, aber lieben kann er sie nicht mehr. Er kann kaum noch sehen, sogar die Anstrengungen einer normalen Unterhaltung hat ihm der Arzt verboten. Seine Mutter, die ihm als Kind einst ihre Liebe verweigerte, bringt nun endlich dem todkranken Sohn Zuneigung und Mütterlichkeit entgegen. In der Nacht vom 17. auf den 18. August beginnt die Agonie. Victor Hugo, der große Kollege, ist bei ihm, während seine Frau ein Rendezvous mit dem Maler Gigoux hat. Balzac, der einsam Sterbende, kämpft bewußtlos seinen letzten Kampf. Hugo hält die Grabrede. Jahre später schreibt Friedrich Engels: "Ohne Zweifel war Balzac politisch ein Legitimist. Aber bei ihm habe ich mehr gelernt als aus allen Büchern der Historiker, Ökonomisten und Berufsstatistiker der Epoche zusammen!" Und André Maurois stellt zu Recht fest: "Balzac lobt guten Glaubens einen Tiger, weil er ein schöner Tiger ist." Levaillant nennt ihn einen "Visionär der Realität" und Francoise d’Eubonne einen "Gulliver der Literatur, der immer bereit war, im Schlafrock mit seinen Engeln zu ringen, und der sein Jahrhundert niederwarf, um besser die gigantischen Merkmale des von ihm besiegten Riesen auf den Seiten seines Werkes festzuhalten". Der Dichter der "Menschlichen Komödie", der "Lilie im Tal" und der "Mystischen Geschichten" aber hatte bereits fünf Jahre vor seinem Tod erschöpft und mutlos geschrieben: "Ich habe kein Lebensbewußtsein. Ich glaube nicht mehr an die Zukunft!" Daß er sich dennoch wieder aufrichtete, wieder Lebensmut faßte und mit ungewöhnlicher Willenskraft und Leidenschaft seinen Weg zu Ende ging, davon zeugen auch seine letzten bezeichnenden Worte: "Ich gehöre zur Opposition, die sich das Leben nennt!" Werner Olles |