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Leben auf der Achterbahn - Vor 200 Jahren wurde der
große Romancier geboren

Das gedunsene Gesicht mit den finster zusammengezogenen Augenbrauen; das überdimensionierte Doppelkinn anstelle eines Halses, die fettigen Haare - es ist eine bäuerisch-proletarische Physiognomie, und keiner, der sie unwissend sieht, käme auf die Idee, daß sich die ungehobelte Kraft, die sie zugleich verrät, auf einem Gebiet Bahn gebrochen hat, das man gemeinhin mit sensibleren Erscheinungen assoziiert: in der Literatur.

Dabei täuscht das Porträt nicht einmal: Honoré de Balzac - er wurde heute vor 200 Jahren als Sohn eines Armeelieferanten in Tours geboren - war ein Stück weit durchaus so, wie er aussah: Wenn er auf einer Soirée sein dröhnendes Gelächter anstimmte; wenn er das Essen mit dem Messer zum Munde führte; wenn er beim Pfeifestopfen seine unsauberen Fingernägel sehen ließ, dann wandte die feine Pariser Gesellschaft sich indigniert ab - jene Gesellschaft, der zuzugehören der Dichter all seinen Ehrgeiz aufwandte.

Der erschlichene Adelstitel, die aufdringlich-geschmacklose Kostbarkeit seiner Wohnungseinrichtungen, die fixe Idee, eine reiche Aristokratin zu heiraten und dann den Lebensabend als üppig alimentierter Rentier in Saus und Braus verbringen zu können - all dies bezeichnete die kleinbürgerlichen Lebensträume eines Mannes, dessen überwältigendes, in einer schier übermenschlichen Anstrengung während 20 produktiver Jahre herausgeschleudertes Werk nichts Kleinbürgerliches an sich hat.

Dabei macht er in seinen mehr als 90 Romanen und Novellen immer wieder genau das zum Gegenstand eindringlicher Analyse, was als Grundmelodie das eigene Leben bestimmte: die Leidenschaft, die seine Gestalten wie an Fäden gezogene Marionetten beherrscht: Habgier, Geiz, Spielsucht, sozialen Geltungsdrang, die alles verzehrende sexuelle Obsession. Es sind diese verabsolutierten Passionen mit ihren teils lächerlichen, teils tragischen Aspekten, die seine Figuren letztlich zu Fall bringen.

In der Tat hätte Balzac selbst gut in die Galerie seiner Geschöpfe hineingepaßt. Auf der Jagd nach dem Reichtum stürzte er sich in unternehmerische Abenteuer, die allesamt kläglich endeten. Letztlich trieb ihn die bittere Notwendigkeit, einen bereits in frühen Lebensjahren zu beträchtlicher Höhe angewachsenen Schuldenberg abzutragen, an den Schreibtisch. Dort entstand seit etwa 1830 kein anonym vertriebener Kolportage-Schund mehr - damit hatte der ehemalige Student der Rechte in den 20er Jahren angefangen -, sondern jene rasch anschwellende Flut von Meisterwerken, die Balzac seit 1834 in das Bett eines genau strukturierten, durch Querverweise und Wiederaufnahmen verbundenen Gesamtwerks zu leiten gedachte: der "Comédie humaine", der "Menschlichen Komödie".

Es war eine Galeerenarbeit: Wenn er an einem seiner großen Romane schrieb - und er produzierte mitunter drei, vier pro Jahr -, dann zog er eine Mönchskutte an, schlief nur noch vier Stunden täglich und bekämpfte die körperliche Erschöpfung mit starkem Kaffee - 40 bis 60 Tassen soll er an einem Tag getrunken haben. Auf die Dauer konnte das nicht gutgehen, und es ging auch nicht gut. Als die reiche Witwe endlich in Sicht kam - die russische Gräfin Evelina Hanska -, war Balzac todkrank. 1850 starb er, gerade 51, in Paris an den Folgen einer Herzerweiterung.

Und wieder: Die offensichtliche Unfähigkeit Balzacs als Geschäftsmann steht in krassem Gegensatz zu jener Scharfsichtigkeit, mit der etwa in dem Roman "Verlorene Illusionen" die finanziellen Machinationen analysiert werden. Wenn er heute als Exponent des literarischen Frührealismus gilt, dann auch deswegen, weil die im Zuge seiner Ausflüge ins Business gemachten Erfahrungen direkt in seine Bücher eingegangen sind. Dies betrifft zum Beispiel die verblüffend genaue Beschreibung der Papierherstellung am Beginn der "Verlorenen Illusionen".

Freilich sollte diese objektivistische Detailliebe, diese Nähe zu einer vorgefundenen zeitgenössischen Erlebniswelt nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Balzac, der immer wieder die Bedeutung des Imaginären betonte, keineswegs um bloße Abbildung ging. Er wollte eine höhere und, indem er deren Essenz zur Darstellung brachte, der "wirklichen Wirklichkeit" überlegene Realität vorstellen. "Kehren wir zur Wirklichkeit zurück", soll er gesagt haben, nachdem er von seinem Fenster aus die Straßenkämpfe in Paris während der 48er Revolution beobachtet hatte. Die gemeinte Realität, das waren seine Bücher.

Zusammengehalten wird Balzacs bunte, vielgestaltige Welt vor allem durch ein Element, das die Figuren zum Tanzen bringt, das die Beziehungen zwischen ihnen stiftet und sie mit Notwendigkeit, wie es scheint, zerstört: durch das Geld, dessen kalter Glanz den Innenraum dieses Erzählens erhellt. Kaum ein Buch Balzacs kommt ohne das Motiv der Erbschaft aus, und die überdimensionierten Vorgeschichten, die Romane wie die "Junggesellenwirtschaft" oder eine Novelle wie "Pierrette" eröffnen, verdanken sich dem Bemühen geschuldet, die erbrechtlichen Verbindungen zwischen Personen und Familien zu erhellen und damit das anlaufende Drama zu motivieren.

Alle werden sie hineingezogen in den unheilvollen Bannkreis der Verträge, die in der Vergangenheit geschlossen wurden, die dümmlichen Hagestolze und die intriganten Priester, die verbitterten alten Jungfern und die verschlagenen Kurtisanen, die ihre Opfer bis aufs Blut aussaugen; und - immer wieder - die abgehalfterten Offiziere des Kaiserreichs, die nicht mehr in ein geregeltes Privatleben zurückfinden. Balzac beschreibt sie mit jener Nüchternheit, die besonders gehässig wirkt, weil sie nicht mit Moralin getränkt ist, die aber auch keinen Zweifel daran läßt, daß Erziehung und Umwelt die Menschen zu dem machen, was sie sind.
Die Menschen Balzacs, sie sind nicht nur Individuen, sondern auch Typen, Sozialcharaktere der französischen Gesellschaft der Jahre zwischen 1820 und 1840 - mitsamt dem herausragenden und teilweise den Handlungszusammenhang seiner Romane gliedernden Ereignis der Juli-Revolution. Balzac, persönlich ein gläubiger Anhänger der Kirche und monarchischer Legitimist, verachtete die Liberalen, die 1830 mit dem Bürgerkönigtum des Louis Philippe an die Macht kamen. Was ihn freilich nicht hinderte - auch dies einer der Widersprüche zwischen empirischem und ästhetischem Subjekt -, die Vertreter der eigenen Richtung in jeder Hinsicht schlecht wegkommen zu lassen.

Der Frühkapitalismus

Nicht zuletzt auf der genauen Darstellung des aufblühenden Frühkapitalismus und seiner Wirkungsmechanismen beruht die Faszination, die Balzac stets auf marxistische Interpreten ausgeübt hat, von Marx und Engels selbst bis Lukacs und Adorno. Die Existenz ist unsicher geworden in Zeiten, wo ein manipulierter Börsenkrach die gestern verdienten Millionen zusammenschmelzen läßt. Balzacs Bücher wimmeln von Figuren, die auf einer schwindelerregenden Achterbahn zwischen prassendem Reichtum und entwürdigender Armut fahren. Das barocke Rad der Fortuna, es erscheint in verwandelter Form in der für die meisten seiner Menschen undurchschaubaren Bewegung der Waren und Finanzen.

Dies bedeutet zugleich, daß es Balzac als erstem in der europäischen Literatur gelungen ist, die existenzbeherrschende Macht der Lebensform Großstadt dichterisch präsent zu machen. Der junge Mann, der voller Hoffnungen aus der Provinz nach Paris kommt und in diesem Moloch sein Glück macht oder, weit häufiger, von der als Bestie allegorisierten Metropole zerkaut und wieder ausgespuckt wird und als Wrack dort landet, wo er hergekommen ist - auch er ist eine von Balzacs Leitfiguren.

Sein Werk war so zukunftsträchtig, daß nur wenige unter den Zeitgenossen es in seiner ganzen Größe erkannt haben. Zu ihnen gehörte der 82jährige Goethe. "Ich las", so schrieb er im November 1831, "»La peau de chagrin« weiter. . . Es ist ein vortreffliches Werk neuster Art, das Product eines ganz vorzüglichen Geistes, welches sich jedoch dadurch auszeichnet, daß es zwischen dem Unmöglichen und Unerträglichen mit Energie und Geschmack hin- und herbewegt, und das Wunderbare als Mittel, die merkwürdigsten Gesinnungen und Vorkommenheiten sehr konsequent zu brauchen weiß."

Markus Schwering

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