Orchesterwerke
Zelenkas Instrumentalmusik: das Frühwerk eines Erwachsenen Im Jahre 1694 wurde August der Starke nach dem frühen Tod seines Bruders unerwartet Kurfürst von Sachen. Aus politischem Kalkül konvertierte er 1697 zum Katholizismus und schuf so eine Grundvoraussetzung für seine Wahl zum König von Polen noch im gleichen Jahr. Damit brach August mit der lutherischen Tradition seines Hauses. Sachsen aber blieb ein lutherisches Territorium; der Katholizismus blieb auf den Bereich des Hofes beschränkt. Erst nachdem der einzige legitime Sohn Augusts des Starken, der als Friedrich August II. 1733 dessen Nachfolge als Kurfürst antreten sollte, im Jahre 1719 mit seiner Gemahlin, der habsburgischen Kaisertochter Maria Josepha in Dresden einzog, entwickelte sich die katholische Kirchenmusik am Dresdner Hof stetig. Neben dem Kapellmeister Johann David Heinichen (1683-1729) trug dazu vor allem der böhmische Komponist in Dresdner Diensten Jan Dismas Zelenka bei. Dieser war als Sohn eines Organisten am 16. Oktober 1679 im böhmischen Dorf Launowitz (Lounoviče) getauft worden. Er erhielt eine humanistisch-religiöse Erziehung am Prager Jesuitenkolleg »Clementinum«. Dort erlernte er wohl auch das Kontrabassspiel, das ihm um das Jahr 1710 oder 1711 eine Anstellung bei der Kurfürstlich-Sächsischen und Königlich-Polnischen Kapelle zu Dresden einbrachte. Bis zu seinem Tod im Jahre1745 blieb er in Dresdner Diensten, erst 1735 wurde er zum »Kirchen-Compositeur« ernannt. Von 1716 bis 1719 weilte er (mit Unterbrechungen) in Wien, 1723 verbrachte er einige Zeit in Prag. In Wien und Prag entstanden auch die vorliegenden Kompositionen. Sonst aber scheint Zelenka ständig in Dresden geblieben zu sein. Die Bedeutung Zelenkos als Komponist beruht nicht allein auf seinen zahlreichen Werken für den katholischen Gottesdienst, sondern auch auf seiner Instrumentalmusik. Sein Wirken auf diesem Feld war allerdings nicht umfangreich und beschränkte sich auf die Jahre kurz vor und nach 1720. In Wien entstanden 1717 - 1718 vier »Capricci« - darunter die beiden Capricci in G-Dur (ZWV 183, datiert am 24. Januar 1718) und F-Dur (ZWV 184, undatiert, aber wohl ebenfalls 1718 komponiert), die sich vor allem durch ihre virtuosen Horn-Partien auszeichnen. (In Dresden kam 1729 noch ein weiteres Capriccio hinzu). Sodann hat Zelenka um 1720 sechs Trio- bzw. Quadrosonaten für 2 Oboen (einmal Violine und Oboe), Fagott und Basso continuo komponiert. In und für Prag hat er schließlich 1723 einige Orchesterwerke unter verschiedenen Titeln geschrieben, die im Umfeld der Krönung des Habsburgerkaisers Karl Vl. zum König von Böhmen aufgeführt worden sind. Zu diesen Werken gehören die »Hipocondrie à 7 concertanti« (ZWV 187) und das »Concerto ä 8 concertanti« (ZWV 186) Zelenkas Wiener Capricci verdanken ihre Entstehung der Brautwerbung des sächsischen Kurprinzen Friedrich August. Nachdem in langwierigen Verhandlungen zwischen Dresden und Wien die Modalitäten der Eheschließung zwischen dem Sohn Augusts des Starken und der Habsburgerprinzessin Maria Josepha fest gelegt worden waren, reiste der Kurprinz im Spätsommer des Jahres 1717 nach Wien; dort blieb er bis zum Sommer 1718. Eine besondere Vorliebe scheint der Kurprinz, ein leidenschaftlicher Jäger, für ein Instrument gehabt zu haben. das eben erst begann, in die Kunstmusik einzudringen: das Corno da coccia oder Jagdhorn, das damals noch wie die Trompete ein Naturtoninstrument war. Es kann kein Zufall sein, dass just zu dieser Zeit der Dresdner Hof in Wien zwei Jagdhörner ankaufte, Jan Dismas Zelenka war als Kontrabassist. nach Wien abgeordnet worden, um zusammen mit anderen Dresdner Kapellmitgliedern den Kurprinzen musikalisch zu unterhalten. Daneben aber betrieb Zelenka beim Kaiserlichen Hofkapellmeister Johann Joseph Fux (1660 - 1741) auf eigene Kosten Kompositionsstudien. Bald erhielt er Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen. Sein Auftrag lautete offen bar, mehrsätzige Werke für ein größeres Instrumentalensemble unter Einschluss von zwei Jagdhörnern zu komponieren. Entstanden sind dabei variabel aufgebaute Zyklen, in denen auf einen Einleitungssatz einige Tanzsätze folgen. Dieser Befund ist keineswegs überraschend. Wer mit zu engen Zyklusvorstellungen an die Ensemblemusik der Zeit herantritt, verkennt den außerhalb des Solokonzerts recht großen Spielraum, den sich später ja auch Bach in den»Brandenburgischen Konzerten« und den Orchestersuiten zunutze machte. Als einen Hinweis auf den Spielaum kann man auch Zelenkas Bezeichnung »Capriccio« verstehen. Wo feste Zyklusformen fehlen, kann der Komponist nach Belieben - italienisch »a capriccio« - verfahren. Johann Joseph Fux im hattem Jahre 1701 Nürnberg sein »opus primum« veröffentlicht; es trägt den Titel »Concentus Musico-Instrumenintalis in septem Partitas, ut vulgo dicimus, divisus« (>Instrumental-musikalisches Klangspiel, eingeteilt in sieben Partiten, wie wir dies umgangssprachlich nennen<). »Partita« ist ein italienisches Synonym für »Suite« (>Folge<); man kann das Wort mit »aus Teilen bestehender Zyklus« übersetzen. Vier der Zyklen sind als »Ouverture« bezeichnet, zwei als »Sinfonia«. Dies ist jeweils auch der Name des Einleitungs-Satzes, der also pors pro toto für das ganze Werk steht - man denke hier auch an Bachs Cembalosuite in h-Moll (BWV 831), die unter dem Namen »Französische Ouvertüre« bekannt ist. Fux läßt auf den jeweiligen Ein leitungssatz drei bis sechs Sätze folgen, die teils Tanznamen (Menuet, Passepied, Bourrée u.a), teils aber auch charakterisierende Namen fragen (z.B. >Air Ja Volage<, >Les ennemis confus<). Besonders lang ist das Prunkstück der Fuxschen Sammlung, die einleitende »Serenada«, die nicht weniger als sechzehn Einzelsätze umfaßt. Fux steht mit seiner Sammlung in einer Tradition, in der etwa der Name Georg Muffat Erwähnung verdient. Die Variabilität der Zyklusbildung in den Capricci Zelenkas ist also durchaus normal. Die Zahl der aus Dresden nach Wien delegierten Spieler war nicht groß, so dass etliche Pulte bei der Uraufführung wohl nur einfach besetzt waren, was freilich nicht heißt, dass diese Besetzung die einzig mögliche oder erstrebenswerte sei. Zu den Capricci in D-Dur(ZWV 182) und A-Dur (ZWV 185) ist das originale Aufführungsmaterial erhalten. Immerhin sind die beiden Violinstimmen des D-Dur-Capriccio in je zwei Exemplaren vorhanden; von allen anderen Stimmen gibt es jeweils nur ein Exemplar. Man wird auch heute eine eher kleine Besetzung wählen, die jedoch einen ausgewogenen Gesamtklang ergeben sollte. Zelenkas Kompositionen sind noch keine »Orchestermusik« im Sinne der Klassik oder Romantik; treffender wäre die Bezeichnung »Musik für konzertierendes Ensemble«. Denn das auffälligste Satzprinzip läßt sich unter den weiten Begriff des »Gruppenkonzertierens« fassen, das allerdings nicht überall zur Anwendung kommt. Einige Sätze sind sehr schlicht geholten und begnügen sich mit Melodie-, Bass- und allenfalls Füllstimmen. Das Hauptgewicht der Zyklen liegt jeweils in den Kopfsätzen. Der Wechsel der Klangruppen trägt den Hauptteil zur Attraktivität der Stücke bei; in den Capricci treten zudem die Hörner oftmals dominierend hervor. Die harmonisch-melodische Substanz allein kann die Faszination der Musik kaum erklären. Neben dem klangfarblichen Moment kommt noch ein rhythmisch-metrisches hinzu. Zelenka bildet größere Abschnitte oft nicht mit Gliedern in den besonders leicht ein gängigen Längenverhältnissen (z.B. 4 + 4 Takte), sondern mit Phrasen unkonventioneller oder ungleicher Länge. So kann man oft nicht vorhersagen, wie die Musik in den nächsten Takten verlaufen wird; Zelenka zwingt die Hörer, ihm zu folgen. Das Capriccio in G-Dur ist für zwei Hörner, zwei Oboen, zwei Violinen, Viola und Basso continuo komponiert. Auf das Einleitungs-Allegro folgen vier nach Suitenart benannte Sätze. Zu dem nicht allzu oft begegnenden französischen Tanznamen »Canarie« schreibt Johann Mattheson 1713 in seinem »Neu-eröffneten Orchestre«: »Conaries sind sehr geschwinde, aber dabey kurtze Giquen, haben den 3/8 Tact, und die ersten Noten in jedem Toct sind mehrentheils mit einem Punct versehen [...1. Sie haben übrigens 2 kurtze Reprisen, und ihren Nahmen ohne Zweifel von den so genandten Canarien- Insuln / als woher sie gebürtig seyn mögen. Eine ordinaire Gique aber hüpffet nicht so sehr als eine Canarie«. Das mit der Charakterbezeichnung »Hipocondrie« bezeichnete Stück ist 1723 in Prag entstanden. Wie alle Prager Kompositionen Zelenkas weist es keine Hörner auf; dafür tritt die Fagottstimme oftmals obligat hervor. Außerdem spielen zwei Oboen, zwei Violinen, Viola und Bosso continuo. Das Stück ist dreiteilig nach Art einer ausgedehnten »Französischen Ouverture« angelegt: auf einen geradtaktigen Einleitungsteil von 24 Takten folgt ein beschwingter fugierter Teil im typisch französischen Dreiertakt, der nicht nur aufgrund seiner Länge als Kernstück des Werkes betrachtet werden darf. Die Schlusstakte sind wieder im geraden Takt mit der bezeichnenderweise französischen Tempoangabe » Lentement« komponiert. Deshalb muss man den im Autograph eindeutig lesbaren, heute aber oft ungenau zitierten Titel als französischen Singular für »Schwermut« auffassen (heute übliche Schreibung: »hypocondrie«), nicht aber als italienischen Plural (in der Einzahl »ipocondria«, Plural »ipocondrie«). Der Titel ist suggestiv und kann zu Gedankenexperimenten über die mögliche »Bedeutung« von Instrumentalmusik anregen. BeeinFlusst die Kenntnis des Titels unseren Zugang? Würde man an ders hören oder spielen, wenn der Titel fehlen sind »Menuett« und »Allemande« (in a-Moll) würde? Würde man ihn überhaupt vermissen? In unmittelbarer Nachbarschaft zur »Hipocondrie« ist das »Concerto ä 8 concertanti« komponiert und aufgeführt worden. Es weist die dreisätzige Form der italienischen Opern sinfonie - oder auch des Solokonzerts - auf Die solistisch besonders hervortretenden Instrumente sind Oboe, Violine und das Fagott, das den zweiten Satz mit einer einprägsamen Kantilene einleitet, die dann von anderen Stimmen übernommen wird. In den schnellen Ecksätzen dagegen herrscht virtuoses Figurenwerk. Insofern verhält sich das Stück wie ein gewöhnlicher dreisätziger Zyklus in der Tempofolge schnell- langsam-schnell. Die Besetzung des F-Dur-Capriccios gleicht derjenigen des G-Dur-Capriccios. Bei der Wiener »Uraufführung« wurden in beiden Capricci sicher dieselben Hörner verwendet, die mittels eines entsprechenden Aufsteckbogens in die jeweils geforderte Stimmung gebracht wurden. Komponiert sind hier vier Sätze; auf den Einleitungssatz nach Art einer »Französischen Ouverture« folgt eine »Allemande«. Ein insge samt fünfteiliger »Menuett«-Satz (mit Trio I und Trio II) sowie ein unbezeichneter Satz, der wie eine Bourrée wirkt, aber deren typischen Auftakt nicht besitzt, beschließen das Werk. Allerdings können wir nicht ganz sicher sein, ob die beschriebene Form dem von Zelenka beabsichtigten Zyklus entspricht. Denn die autographe Partitur bietet heute ein verwirrendes Bild. So mit anderer Tinte geschrieben als die übrigen Sätze. Das schließt eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit zwar nicht aus, deutet aber zumindest auf verschiedene Phasen der Werkentstehung hin. Über Zelenkas erste Schritte in der Komposition, die noch in die Prager Zeit fallen, weiß man so gut wie nichts. Prager Wurzeln hat wohl die im Januar 1712 in Dresden aufgeführte »Missa Sanctae Caeciliae«(ZWV 1), mit der Zelenka sich um ein Reisestipendium bewarb, um sich in Italien »in dem soliden Kirchen Stylo« und in Frankreich »in dem bon goüt zu perfectioniren«. Diese Reise kam anscheinend nicht zustande; erst in den Jahren 1716 bis 1719 erhielt Zelenko Gele symgenheit, sich außerhalb Dresdens weiterzubilden. Er konnte damals nach Wien gehen. Denn dort weilte der sächsische Kurprinz Friedrich August, das einzige legitime Kind Augusts des Starken. Im Jahre 1733 trat der Prinz als Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen, etwas später dann als August III., König von Polen, die Nachfolge seines am1. Februar 1733 in Warschau gestorbenen Vaters an. Zelenka hat während des Aufenthalts in Wien, der offenbar mehrfach durch die Rückkehr nach Dresden unterbrochen wurde, Kompositionsstudien beim Kaiserlichen Kapellmeister Johann Joseph Fux(1660-1741) betrieben. Die Musik aber, die er in Wien komponiert hat, ist mit diesen Studien nur indirekt in Verbindung zu bringen. Direkt hat sie etwas zu tun mit dem Repräsentations- und Unterhaltungsbedürfnis der in Wien weilenden sächsischen Delegation und insbesondere mit der Jagdleidenschaft des Prinzen. Das typische Jagdinstrument war das Horn, italienisch »Corno da caccia«. Die in und für Dresden komponierte Musik zeichnet sich durch eine virtuose Verwendung von Hörnern aus, die in der Musik anderer Regionen insbesondere in den Jahren um 1720 ihresgleichen nicht hatte. (Das Schaffen J.S. Bachs nimmt allerdings auch hier eine Sonderstellung ein.) Zelenka hat sich offenkundig bemüht, den Erwartungen des Kurprinzen zu entsprechen, indem er die Kunstmusik und die Jagd symbolisch miteinander verband. Die ersten vier der fünf »Capricci« Zelenkas sind in den Jahren 1717 und 1718 (allenfalls noch zu Beginn des Jahres 1719) in Wien entstanden. Aus dieser Zeit ist ein Beleg über den Kauf zweier »Wiener Waldhörner« durch den Dresdner Hof erhalten; ein Zusammenhang mit den Capricci liegt nahe. Zelenkas Kompositionen haben der Unterhaltung einer adligen Gesellschaft gedient. Sie hätten gut in den Rahmen einer wirklichen Jagd gepaßt, wobei man wohl nicht an Freiluftaufführungen denken muss (eines der Capricci ist im Januar dotiert); die Tafel nach der Jagd wurde sicher durch Musik bereichert. Zwar ist man geneigt, einem adligen Publikum dieser Zeit ein hohes Maß an Unaufmerksamkeit zu unterstellen. Aber vielleicht unterbrachen die Einleitungssätze der Capricci mit ihren exponierten Hornpartien die zu vermutende Konversation wenigstens für eine kleine Weile. Das fünfte Capriccio Zelenkas ist nicht in Wien entstanden, sondern gut zehn Jahre später in Dresden. Es ist bislang nicht gelungen, einen konkreten Entstehungsanlass für das mit dem 18. Mai 1729 dotierte Werk zu finden, doch wird man kaum irren, wenn man eine festlich-gesellige Veranstaltung vermutet, womöglich wiederum im Zusammenhang mit einer Jagd. Stilistisch unterscheidet sich das Werk kaum von den vier älteren Capricci. Die rung stimmen hier wie dort überein, und auch die »Tonsprache« Zelenkas ist dieselbe geblieben. Das Corno da coccia jener Zeit war ein »Naturinstrument«. Nach den Gesetzen der Physik kann in einem offenen Rohr nur die Reihe der Obertöne erzeugt werden. Grob gesagt, erzeugt der Hornist durch je verschiedenes Anblasen die einzelnen Ober- oder Naturtöne. Dabei lassen sich nur die Töne in einem bestimmten Ausschnitt aus der Reihe bequem anblasen. Die Untergrenze bildet in »normalen« Hornpartien der Zeit zumeist Naturton 4(notiert als c'; der Grundton wird dabei als NT 1 gezählt), selten NT 3 (notiert als g); die Obergrenze bildet NT 16, allenfalls NT 18 (notiert als c"' bzw. d"'; NT 17 kommt nicht in Betracht). Eine fortlaufende Tonleiter ergibt sich erst ab NT 8 (notiert: c"), dem Beginn des sogenannten »Clarinregisters«. Gewisse natürliche »Ungenauigkeiten« in dieser Leiter lassen sich spieltechnisch abmildern. Zuweilen werden sogar Töne verlangt, die »von Natur aus« gor nicht vorhanden sind (etwa der Ton notiert cis", der »zwischen« NT 8 und NT 9 liegt). Die Notation von Hörnern und Trompeten ist eine Notation der Naturtöne, bezogen auf C-Dur. Die Naturtonreihe lautet in dieser Notation (Töne mit den Zeichen »-« oder »+« sind, gemessen an einer »normalen« Skala, Buntheit der Satzfolge und die Instrumentie merklich zu tief bzw. zu hoch): Die jeweils konkrete Tonhöhe ergibt sich mittels eines Transpositionsintervolls, das aus der Hornstimmung resultiert, wobei Hörner in den gebräuchlichen Stimmungen immer tiefer klingen als die in der Regel im Violinschlüssel notierten Töne: notiert c" (NT 8) klingt auf dem D-Horn als d', auf dem G-Horn als g'. Denn der - nicht spielbare - Grundton (NT 1) würde nicht als Groß-D bzw. Groß-G, sondern als Kontra-D bzw. Kontra-G klingen. Ein längeres Rohr ergibt eine tiefere Stimmung. Je länger das Rohr ist, desto besser sind die hohen Naturtöne erreichbar. Die tiefste Stimmung in den Capricci ist D, die höchste A. Man kann erwarten - und es ist in der Tat so - dass die D-Partien die höchsten notierten Töne aufweisen, während die A-Partien den höchsten Klang ergeben. Im D-Dur-Capriccio (ZWV 182) erinnert das einleitende Satzpaar an die erste Hälfte einer»Sonata da chiesa«: einem langsamen Satz mit vielen Bindungen folgt eine Fuge. Hier werden die Hörner von Zelenka als eine Stimme im Fugensatz behandelt; sie bringen nicht - wie in der Hornmusik jener Zeit sonst oft üblich - ihre eigene, bequem zu spielende Thematik mit: der Komponist und nicht der Hornist bestimmt, was gespielt wird. In dieser Fuge nun (Track 11 , Allegro-Teil) treibt Zelenka das erste Horn in einer atemberaubenden Girlande bis zum notierten Ton g"' (NT 24 !) hinauf. Diesen Ton hat Zelenka (um von anderen Zeitgenossen zu schweigen) niemals wieder von einem Hornisten verlangt, doch überschreitet er die »normale« Obergrenze notiert d"' auch sonst gelegentlich. NT 24 (notiert g"') klingt in D-Stimmung als a". Derselbe Klang wird in G-Stimmung bereits von NT 1 8 (notiert d"') erzeugt; er findet sich im Capriccio G-Dur (ZWV 190) im Einleitungssatz (Track 1). Nur im Capriccio A-Dur(ZWV 185; Einleitungssatz und Aria 2) findet sich mit h" ein noch höherer Klang (notiert: d"'). Wie schwierig all dies zu spielen ist, werden nur Hornisten wirklich beurteilen können; aber selbst bei virtuosester Darbietung kann man bemerken, dass hier die Grenzen des Ausführbaren gestreift werden. Es sind dabei nicht allein die hohen Naturtöne, sondern eher noch die hohen Klänge, die schwer hervorzubringen sind. Ein bedeutender Hornist unserer Tage hat einmal geschrieben, dass alle Töne, die höher als f" klingen, auf dem Naturhorn nicht ohne Anstrengung hervorgebracht werden können. Bei hoher Hornstimmung (z. B. G) beginnt die problematische Region also schon bei relativ niedrigen Naturtönen. Man sollte die spektakulären Hornpartien nicht aus ihrem Zusammenhang reißen. Sie sind vielmehr Bestandteile von Kompositionen, die den Hörnern - und den anderen konzertierenden Instrumenten - erst das Forum für ihre Auftritte bieten. Das musikalische Hauptgewicht der Capricci Zelenkas liegt auf den Einleitungssätzen. Auf diese Sätze folgen- nach Art einer »Orchestersuite« oder einem an die »Sonata da comera« angelehnten Zyklus-verschiedene Tanzsätze, kleine »Charakterstücke« oder ariose Sätze, wobei die Typen nicht immer strikt zu unterscheiden sind. Die Einleitungssötze (oder Satzpaare) erinnern zuweilen an musikalische Großformen der Zeit - an Konzertsätze, an den Anfangsteil einer Kirchensonate, an eine » Französische Ouverture« -, und sie zeigen zugleich Zelenkas Vorliebe für einen unregelmäßigen, deshalb kaum vorhersehbaren und desto reizvolleren Phrasenbau, der sich paart mit einer Neigung zu Synkopen. Die Tanzsätze sind zumeist sehr einfach gebaut. Zelenka komponiert schlichte, eher ländliche Menuette und Sätze nach Art einer Gavotte oder Bourrée. Ausdrücklich auf den»niederen Stil« dieser Tänze verweisen die - sonst kaum üblichen - Bezeichnungen »Paysan« (eigentlich: »Der Landmann«) und »Villanella« (etwa: »Dorftanz«). Mit der vokalen »Villanella« des 16. Jahrhunderts verbindet Zelenkas Tanz allenfalls der Hinweis auf das Volkstümliche; musikalische Beziehungen bestehen nicht. Zelenka selbst war sich der Einfachheit seiner Menuette offenbar bewußt, darauf deutet sein handschriftlicher Hinweis zu einem verworfenen Menuettsatz im D-Dur-Capriccio (ZWV 182). Nach dem durchgestrichenen Stück schreibt er: »Nb Se la Menu 1 pare essere un poco duro se trova un'altra nell'altro parte« (»Notabene. Wenn das Menuett 1 ein wenig derb erscheinen mag, dann findet man im anderen Teil [wohl: des Manuskripts] ein anderes«). Die vorliegende Einspielung berücksichtigt nach dem Willen Zelenkas nicht das verworfene »Menuett 1«, sondern das zweite, neu komponierte »Menuett 1 « (Menuett 2 ist von der Auswechslung nicht betroffen). Mit dem Namen »Charakterstück« bezeichnet man gewöhnlich kleinere Klavierstücke des 19. Jahrhunderts (etwa von Mendelssohn oder Schumann). Das ist hier natürlich nicht gemeint. Vielmehr finden sich in der französischen Clavecinmusik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts viele Stücke mit charakterisierenden Überschriften wie etwa »La Joyeuse« oder»La Timide« bei Jean-Philippe Rameau (1683 - 1764). Die Titel sind hier allerdings fast immer mit dem weiblichen Artikel versehen, während Zelenka die maskuline Form und die italienische Sprache wählt. Auch die Darstellung von Charakteren durch kostümierte Tänzer war damals geläufig; dies zeigen zeitgenössische Bilder, aber auch ein Buch wie die »Neue und Curieuse Theatralische Tontz-Schul« Gregorio Lombranzi (Nürnberg 1716). Es war des also nichts Ungewöhnliches, wenn ein Komponist Stücke mit Titeln wie »II Contento« oder»II Furibundo« (Capriccio G-Dur, Satz 3 und 4) versah. Ob Zelenkas Tanz- und Charakterstücke (die großen Einleitungssätze kommen hier nicht in Frage) wirklich tänzerisch dargestellt wurden oder ob wenigstens die Möglichkeit dazu bestand, wissen wir nicht. Einen kantablen Grundton schlagen die mit»Aria« überschriebenen Sätze an, doch ist zu bedenken, dass die Bezeichnung zur Zeit Zelenkas noch nicht ausschließlich auf Vokalmusik eingeengt war. In der »Aria da Capriccio«(»Simphonie«, 4. Satz) konfrontiert Zelenka zwei gegensätzliche Charaktere. Der erste Charakter (»Andante«) erweckt mit seiner geschmeidigen Melodielinie durchaus den Eindruck menschlichen Singens, während sich der zweite Charakter (»Allegro«) in virtuosen Instrumentalfiguren präsentiert. In den Orchesterwerken, die Zelenko 1723 in Prag komponiert hat, werden keine Hörner verwendet. Dagegen ist hier das Prinzip des Konzertierens, das sich in der vielgestaltigen Abwechslung der verschiedenen Instrumentengruppen verwirklicht, auf die Spitze getrieben. Erhalten sind vier Werke mit unterschiedlichen Titeln: neben der»Simphonie« in a-Moll (ZWV 189) ein »Concerto« (ZWV 186), eine »Ouverture« (ZWV 188) und ein mit»Hipocondrie« (ZWV 187) überschriebenes Stück. Die unterschiedlichen Werkbezeichnungen scheinen nicht auf feste »Gattungen« zu verweisen. Bei all diesen Werken weist Zelenka in einem Titelzusatz auf das Prinzip des Konzertierens hin. So lautet die Überschrift des an erster Stelle genannten Werkes vollständig: »Simphonie a 8 concertanti«. Es ist nicht bekannt, wer diese Werke in Auftrag gegeben hat - waren es die Prager Jesuiten oder waren es in Prag versammelte Adlige? - und wo sie erklangen. Den umfassenden Rahmen aber bildete die Krönung des Römischen Kaisers Karls Vl. (1711-1740) zum böhmischen König. Böhmen wurde seit 1526 fast ohne Unterbrechung von den Habsburgern regiert; der jeweilige Kaiser ließ sich in Prag zum König von Böhmen krönen (oder auch nicht). Nur ein einziger Habsburgerkaiser, Rudolf II. (1576-1612) residierte in Prag. Ansonsten scheinen sich die Habsburger um Böhmen nicht sonderlich gekümmert zu haben. Karl Vl. wurde bereits 1711 in Frankfurt zum Römischen Kaiser gekrönt, aber erst 12 Jahre später, am 6. September 1723, folgte die Krönung zum König von Böhmen in Prag. Das musikalische Hauptereignis dieser Tage war die Aufführung der Oper »Costanza e fortezza« des Hofkapellmeisters Johann Joseph Fux. In das Umfeld dieser Krönung gehören auch prachtvolle, von den Prager Jesuiten organisierte Festveranstaltungen, zu denen das von Zelenka komponierte »Melodrama de Sancto Wenceslao« (ZWV 175) mit dem auf ein umgreifendes symbolhaltiges Bild verweisenden Titel »Sub oleo pacis & polma virtutis conspicuo orbi Regia Bohemiae Corono« (Die böhmische Königskrone unter dem Ölzweig des Friedens und der Palme der Tugend, sichtbar für die ganze Welt). Zur Aufführung die ses Stückes reiste Zelenka nach Prag. Die Prager »Simphonie« (ZWV 189) ist nicht von grundsätzlich anderer Art als die Capricci. Die Satzfolge ist vergleichbar: auf eine »rein musikalische« Einleitung folgen Tanzsätze - ein »Capriccio« im »Tempo di Gavotta« und ein »Menuett« - und die bereits erwähnte »Aria da Capriccio«. Der ausgedehnte Einleitungssatz der »Simphonie« erinnert in Faktur und »Tonfall« durchaus an die Musik Antonio Vivaldis, die auch für Zelenka ein Orientierungspunkt war; man vergleiche etwa Vivaldis a-Moll-Konzert für zwei Violinen und Orchester (op. 3, Nr. 8; RV 522) aus der Sammlung »L'estro armonico«. J. S. Bach fand dieses Konzert Vivaldis so interessant, dass er es für den Gebrauch auf der Orgel einrichtete (BWV 593). Zelenka hat sich in den Jahren nach 1720 mit wechselnder Intensität komponierend und dirigierend um die katholische Kirchenmusik am Dresdner Hof verdient gemacht. Zum »Kirchen-Compositeur« wurde er 1735 ernannt; am 23. Dezember 1745 ist er in Dresden gestorben. Zelenkas Instrumentalwerke gehören mit nur einer Ausnahme einer kurzen, relativ frühen Schaffensepoche an, die durch die Jahre 1717 und 1723 begrenzt wird. Neben den vier Wiener Capricci und den vier Prager Werken entstanden um 1720 noch sechs Trio- bzw. Quadrosonaten (ZWV 181, 1-6). Mit Ausnahme des Dresdner G-Dur-Capriccios aus dem Jahre 1729 schrieb er danach nie wieder selbständige Instrumentalmusik. Wir können das nur bedauern. Die ersten datierten Werke Zelenkas - sieht man von vereinzelten früheren Versuchen ab - für den katholischen Hofgottesdienst stammen aus dem Jahr 1722. Bis 1733 schrieb er dann mit wechselnder Intensität, aber kontinuierlich Kirchenmusik: Messen, Psalmen, Magnificat und anderes. Mit dem Tod Augusts des Starken (als Friedrich August I. von 1694 bis1733 sächsischer Kurfürst und als August II. von 1697 bis 1733 zugleich König von Polen) am 1. Februar 1733 begann anscheinend auch für Zelenka eine Zeit der Unsicherheit und der Veränderungen, wie sie ein Herrscherwechsel mit sich zu bringen pflegte. Zwar deutet Vieles darauf hin, dass die musikalischen Verhältnisse in Dresden schon zu Lebzeiten Augusts des Starken von dessen Sohn Friedrich August (als Friedrich August II. sächsischer Kurfürst von 1733-1763, als August III. zugleich König von Polen) geregelt wurden, der im September 1719 von einer langjährigen Kavolierstour nach Dresden zurückgekehrt war. Im Gefolge führte er seine Gemahlin, die er kurz zuvor in Wien geheiratet hatte. Die Habsburgerprinzessin Maria Josepha (Tochter des Kaisers Joseph I., 1705 - 1711, zugleich Nichte des regierenden Kaisers Karl VI., 1711-1740) nahm offenbar regen Anteil am Dresdner Musikleben. Anscheinend aber liefen nach dem Herrscherwechsel die Dinge nicht einfach so weiter wie zuvor. Jedenfalls läßt Zelenkas kirchenmusikalische Produktion in den Jahren nach 1733 quantitativ nach, wenngleich sie qualitativ mit den in der Zeit von 1736 bis 1741 komponierten fünf späten Messen ihren Höhepunkt erreichte. Zelenka war zwar ein angesehener Musiker, aber er gelangte nie offiziell an die Spitze der Dresdner Hofkapelle. 1735 erhielt er das Prädikat eines »Kirchen-Compositeurs«, das aber mehr Ehre als EinFluss bedeutete. Zwei Jahre zuvor hatte er sich um die seit 1729 vakante Kopellmeisterstelle beworben - damals war der Stelleninhaber Johann David Heinichen (1683-1729) gestorben -, wohl nicht ahnend, dass für diese Stelle der als Opernkomponist berühmte und wesentlich jüngere Johann Adolf Hasse (1699-1783) ausersehen war. Am 23. Dezember 1745 ist Jan Dismas Zelenka in Dresden gestorben. Wenn man mit dem Begriff »Barockmusik« die Vorstellung eines einheitlichen musikalischen Stils verbindet, so ist dies im Hinblick auf die elementaren Grundlagen der musikalischen Grammatik wohl berechtigt. Dies bedeutet aber nicht, dass in der Zeit um und nach 1700 die individuelle Begabung eines Komponisten von den musikalischen Konvetionen eines »Zeitstils« restlos aufgesogen worden wäre. Viele Werke dieser Zeit verdanken ihre Entstehung äußeren Anlässen: sie sind Auftrags- oder Gelegenheitswerke. Dies besagt jedoch wenig über ihren künstlerischen Wert. Zelenkas »Orchestermusik« ist durchweg Auftragsmusik; dabei legt sie in vielen ihrer Sätze ein beredtes Zeugnis von der Individualität und Originalität ihres Schöpfers ab. Sie ist etwas Besonderes, und deshalb wird sie immer ihre Liebhaberinnen und Liebhaber finden. Zelenkas »Orchesterwerke« sind - gemessen an der Produktion mancher Zeitgenossen - nicht besonders zahlreich. Und es fehlt ein gängiges Etikett, mit dem man diese Werke bezeichnen könnte: weder handelt es sich um »Concerti grossi« des Corellischen Typs noch um Solokonzerte in der Art Vivaldis. Bereits ein Blick auf Bachs scheinbar so vertraute »Brandenburgische Konzerte« lehrt, dass im Bereich orchestraler Musik keine festen Normen der Zyklusbildung herrschten, dass vielmehr die Mischung von »freien« und tanzartigen Sätzen »normal« war. Von »Orchestermusik« ist hier im übrigen nur unter Vorbehalt zu sprechen. Denn zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es insbesondere dort, wo man über Bläser verfügte, noch nicht jene einförmige Hierarchisierung der Instrumentengruppen nach Art des späteren Sinfonieorchesters. Auch die Anzahl der Spieler wird eher klein gewesen sein bis hin zur Möglichkeit einer solistischen Besetzung aller Pulte mit Verdopplungen primär im Bereich von Violine und Oboe. Die Continuogruppe rechnete mit den Instrumenten Fagott, Violoncello und KontraBass. Die Originalquellen lassen dagegen nicht erkennen, ob Cembalo oder Theorbe mitwirken sollten; man wird sich hier nach den jeweils vorhandenen Möglichkeiten gerichtet haben. Zelenka hat zwei Gruppen zyklischer Werke für größere Besetzungen geschrieben: die fünf »Capricci« und die vier »Prager Concerti« (wie man sie in Ermangelung eines gemeinsamen Titels nennen könnte). Vier Capricci entstanden in Wien: die Capricci in D-Dur (Zelenka-Werkverzeichnis/ZWV 182), F-Dur (ZWV 184), G-Dur (ZWV 183; datiert: 24.1. 1718) und A-Dur (ZWV 185; datiert: 20.10. 1718); das fünfte Capriccio in G-Dur (ZWV190) entstand wesentlich später in Dresden(datiert: 18.5.1729). Die Wiener Capricci hat Zelenka komponiert, als er neben anderen Dresdner Hofmusikern dem Kurprinzen und sächsischen Thronfolger aufwarten musste, der im Vorfeld der geplanten Heirat mit Maria Josepha in der Habsburgerresidenz weilte. Den konkreten Rahmen für die Aufführung dieser Stücke kennen wir nicht, doch könnte man an ein festliches Mahl im Anschluss an eine Jagd denken. Der Name »Capriccio«, der wohl mit »Einfall« oder auch »(nach) Lust und Laune« übersetzt werden könnte, zeigt an, dass es für derartige Werke eine verbindliche Bezeichnung nicht gab. Alle Capricci Zelenkas verwenden zwei Hörner neben den üblichen Streichern, dem Continuo-Fagott, das nur gelegentlich obligat geführt ist, und den beiden Oboen. Das»Corno da caccia« ist ein Naturinstrument ohne Klappen oder Ventile. Die Töne können nur als Obertöne des Stimmtones durch sogenanntes »Überblasen« erzeugt werden (die Technik der Tonhöhenveränderung durch Handstopfen kam erst später auf). Zelenkas Hornpartien konnten und können nur von großen Virtuosen bewältigt werden; zu Zelenkas Zeit stammten diese meistens aus Böhmen. Doch nicht dies, sondern die Jagdleidenschaft des Kurprinzen dürfte für den außerordentlichen und beispiellosen Einsatz der Hörner - der »corni da caccia« - in Zelenkas Capricci verantwortlich gewesen sein. Das Capriccio in A-Dur weist den Datumsvermerk 20.10.1718 auf. Die Hornstimmung A ist in Zelenkas Werk (wie im gesamten zeitgenössischen Dresdner Repertoire) singulär; in seiner später entstandenen Musik verwendet er nur noch die Stimmungen D und G, während sein Kollege Heinichen neben D die F-Stimmung bevorzugt. Im einleitenden Satz, »Allegro assai«, wird das musikalische Geschehen primär von den Violinen und Oboen getragen, doch sind die Hörner vollständig in das thematische Geschehen integriert: sie spielen entweder das Hauptthema oder aber in wahrhaft atemberaubender Höhe virtuose Girlanden, die diesen Satz zu einem Kabinettstück für Naturhorn-Spieler machen. Übrigens verwendet Zelenka im A-Dur-Capriccio keine Viola, was bei ihm eine Ausnahme ist. Die Be zeichnung des vierten Satzes, »In tempo di partiCanarie«, verweist auf einen Tanztyp, der von dem Lexikographen Johann Gottfried Walther (1732) als eine besonders schnelle Gigue beschrieben wurde, die (wie Zelenkas Satz) im ⅜-Takt notiert wurde, während die»normale« Gigue zumeist im 6/8-Takt stand. Der Name des Schlusssatzes, »Paysan«, hat ein Gegenstück im Capriccio D-Dur (ZWV182, 2. Satz). »Paysan« heißt »Landmann« oder »Bauer«; die von Zelenka so bezeichneten Stücke erscheinen recht derb, vielleicht sogar primitiv. Der »Paysan 2« weist einen zweistimmigen Oberstimmenkonon im Einklang und im Abstand eines halben Taktes auf. Dies bedeutet aber keine Steigerung des künstlerischen Anspruchs: im Gegenteil sorgt gerade dieser Kanon dafür, dass der »Paysan2« harmonisch kaum von der Stelle kommt. Eine Brücke zu Zelenkas so genannten »Triosonaten«, die um 1720 entstanden sind, schlägt der vorletzte Satz, »Andante«. Das Stück ist kontrapunktisch sorgfältig im vier- und dreistimmigen Satz für zwei Oboen, obligates Fagott und Continuo-Fundament gearbeitet; die Hörner und Violinen schweigen. Zelenka hat diesen Satz später - von d-Moll nach c-Moll transponiert - an dritter Stelle in seine»Triosonate« in c-Moll (ZWV 181,6) eingebaut. Die Grenzen zwischen Zelenkas »Orchestermusik« und den »Trio-« oder »Quadrosonaten« müssen demnach offen gehalten werden: eine starre Trennung würde die elle Gemeinsamkeit der Kompositionsprinzipen und der Besetzungsmöglichkeiten verdecken. Neben den fünf Capricci sind noch vier weitere Orchesterwerke Zelenkas erhalten. Auch diese Werke sind nicht in Dresden, sondern in Prag entstanden. Im Jahre 1723 wur den der Habsburgerkaiser Karl Vl. (1711 - 1740) und seine Gemahlin Elisabeth Christina in Prag zu Vizekönigen von Böhmen gekrönt. Zur Feier des Tages wurde mit großer Pracht die vom kaiserlichen Hofkapellmeister Johann Joseph Fux komponierte Oper »Costanza e Fortezzo« aufgeführt, wobei sich im Orchester zu den mitgereisten Wiener Hofmusikern viele Spitzenkräfte aus den umliegenden Ländern gesellten. Auch Jan Dismas Zelenka war nach Prag gekommen. Zwar gibt es keine Dokumente über diese Reise, doch ergeben die in Prag aufgeführten und zum Teil auch komponierten Werke wenigstens ein ungefähres Bild seines dortigen Wirkens. Das prächtige Prager Jesuitenkolleg »Clementinum« war einst Zelenkas Schule und erste musikalische Wirkungsstätte gewesen. Im Zuge der Prager Krönungsfeierlichkeiten wurde das Kaiser- und Königspaar auch von den Jesuiten im »Clementinum« empfangen. Am Sonntag, dem 12. September 1723, führte man im Bibliothekssaal ein Festspiel mit lateinischem Text des Jesuitenpoters Zill auf, das vom heiligen Wenzel, dem Schutzpatron Böhmens, handelte und reich mit allegorischen Elementen durchsetzt war. Die Prager Jesuiten hatten ihren ehemaligen Zögling Zelenka mit der Komposition des musikalischen Anteils an diesem Festspiel und mit der musikalischen Leitung der Aufführung beauftragt. Das Werk umfaßte drei Akte nebst Prolog und Epilog (vgl. die ausführlich kommenierte Ausgabe des Werkes von Vrotislav Belsky in der Reihe »Musica Antiqua Bohemica, Seria II, Band 12, Prag 1987, S. 248). Zelenkas Partitur, die eine einleitende»Symphonia«, Rezitative, Arien und Chöre enthält, bezeichnet das Werk als »Melodrama de S. Wencesloo« (ZWV 175). In der Tat enthält es - und dies unterscheidet es von einem »normalen« Oratorium - zahlreiche gesprochene Passagen in lateinischen Versen. Die »Symphonia« des »Melodrama« hat Zelenka dreiteilig, aber nicht dreisätzig angelegt; das Schema erinnert an die Da-capo-Arie. Auf einen festlich-bewegten und langen Anfangsteil (102 Takte, Allegro assai) folgt ein kurzer Adagio-Teil (18 Takte), nach dessen Ende der gesamte Anfangsteil wiederholt wird. Die dominierenden Motive sind vom Idiom der Trompeten abgeleitet, während Violinen und Oboen mit den raketenartig aufsteigenden Tonleitern die ihnen eigene Beweglichkeit demonstrieren. Typisch für Zelenkas Schreibart ist die etwas widerborstige Rhythmik, die durch den immer wieder überraschenden Wechsel verschiedener Unterteilungen der Schlagzeit und durch wechselnde Akzentuierungen zustande kommt. Die Musik strömt nicht dahin wie ein ruhiger Fluss, eher wie ein Gebirgsbach, der sich immer wieder an Felsen bricht. Nirgends sonst hat Zelenka in seiner Instrumentalmusik Trompeten und Pauken verwendet. Freilich ist die »Symphonia« zum Melodrama kein selbständiges Instrumentalstück; sie gehört also nicht zur eher privaten Kammermusik, sondern zur repräsentativen Theatermusik. Hatte Zelenka die umfangreiche Musik zu dem großen Festspiel womöglich schon aus Dresden mitgebracht, so hat man ihn offenkundig erst in Prag gebeten, noch einige Orchesterwerke zu komponieren, die näheren Umstände sind allerdings unbekannt, und wir wissen nicht einmal, wo sie aufgeführt worden sind, wenngleich man auch hier an das»Clementinum« denken könnte. Anders als die Capricci verwenden die Prager Instrumental werke keine Hörner; sie begnügen sich mit den üblichen Streichern und den Oboen. Erhalten sind vier Werke, die unterschiedliche Titel aufweisen: »Concerto à 8 Concertanti« (ZWV 186), »Hipocondrie à 7 Concertanti« (ZWV 187; in der Form einer »Französischen - Ouverture«), »Ouverture à 7 Concertanti« (ZWV 188) und »Simphonie a 8 Concertanti« (ZWV 189). Gemeinsam ist all diesen Titeln das substantivierte Partizip »Concertanti«, wenn auch nicht alle Sätze für ein »konzertierendes Orchester« geschrieben sind. Die hier eingespielte »Ouvertüre« (ZWV188) ist eine Orchestersuite, deren Titel pars pro toto vom Einleitungssatz abgeleitet ist, der nach Art einer »Französischen Ouvertüre« gestaltet ist: auf den gravitätischen Anfangsteil folgt eine schnelle und recht frei gestaltete Fuge; die gekürzte und veränderte Wiederaufnahme des Anfangsteils beendet den Satz. Unter den folgenden Tanz- oder Charakterstücken fällt insbesondere der Schlusssatz mit dem Titel »Folie« auf. Das Stück hat nichts zu tun mit jenen zahlreichen Variationenreihen des 17. und 18. Jahrhunderts, die über das Bassmodell mit dem Namen »folia« (auch folies d'Espagne«) komponiert wurden, u. a. von Corelli (op. 5, Nr.12; gedruckt 1700) und C. P. E. Bach (1778; Wq.118,9/270 = H. 263). Musikalisch handelt es sich bei Zelenka vielmehr um ein Stück nach Art einer Gavotte, Bourrée oder eines Rigaudon, von denen es sich aber durch den fehlenden Auftakt unterscheidet. Man muss die französische Bezeichnung »Folie« als Charakterbezeichnung verstehen; das Bedeutungsspektrum reicht von »Ausgelassenheit« über »heftige Leidenschaft« zu »Narrheit« und »Wahnsinn«. In der Tat vermittelt das Stück absichtsvoll den Eindruck einer gewissen Sprunghaftigkeit, dann aber auch eines Kreisens und Stehenbleibens - eben den Eindruck eines Menschen, der zugleich starrsinnig und ziellos ist. In anderen Orchesterwerken Zelenkas gibt es im übrigen analog bezeichnete Stücke, so »II Contento«(»Der Zufriedene«) und Al Furibundo (»Der Rasende«) im Capriccio G-Dur (ZWV 190). Mag zu Zelenkas Zeit die Vokalmusik, zumal die kirchliche, ein höheres Ansehen genossen haben als die Instrumentalmusik, so müssen wir diese Wertung nicht übernehmen. Mit der vorliegenden CD ist die Gesamteinspielung von Zelenkas Orchesterwerken durch das »Neu-Eröffnete Orchestre« abgeschlossen. Schade, dass es nicht noch mehr dieser Werke gibt. |