Europäische Union
Die Frage nach der Zukunft der Integration
Hinter dem Treffen zwischen Chirac und Schröder steckt weit mehr als ein
informelles Abendessen.
Diese Woche treffen sich die führenden Staatschefs Deutschlands und
Frankreichs zu einem Abendessen, um die Differenzen, die während der
Regierungskonferenz der EU in Nizza im Dezember zwischen den beiden Nachbarländern
aufgekommen waren, in informeller Atmosphäre zu klären. Die Aufgabe, vor der Schröder
und Chirac, die Außenminister Fischer und Vedrine sowie der französische
Premierminister Jospin stehen, ist größer, als die Form des Treffens den Anschein
geben mag. Es geht um nichts anderes als die Zukunft der Europäischen Union,
und mit ihr um das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich, die sich
beide als den engen Kern der EU begreifen.
Auf der Regierungskonferenz in Nizza hatte es da schon heftig gekracht. Als
es um die Verteilung der Stimmen im Ministerrat ging, einer der
entscheidendenden Instanzen in der Brüsseler Politikhierarchie, trat der Konflikt offen zu
Tage: Frankreich zeigte sich kompromisslos, obwohl Deutschland aufgrund der
demographischen Verhältnisse rein rechnerisch vier Stimmen mehr bekommen
müsste. Die bis dahin bei vielen recht pathetisch aufgenommene Genesung der
konfliktträchtigen Beziehung beider Staaten wurde rüde auf den harten Kern
nationaler Interessen zurückgeworfen.
Für das Verständnis der EU und die Frage nach ihrer Zukunft hat das direkte
Konsequenzen. Besonders in Nizza wurde wieder deutlich, dass das Primat des
Nationalstaats noch immer Leitlinie der Politik der Mitgliedsstaaten der Union
darstellt. Viele pochten unbeirrbar auf das Fortbestehen bestimmter
Regelungen, die für ihre Staaten Vorteile bedeuteten.
Auf die Dauer kann dieses nationale Geschacher das Bündnis ernsthaft
gefährden. Die Grundidee der Europäischen Union ist schließlich letzten Endes nicht
anderes als die Übergabe nationaler Souveränität auf die supranationale
Instanzen Europas.
Nicht zuletzt in Hinsicht auf die anstehende Osterweiterung ist eine offene
Debatte über die Zukunft der EU nicht mehr zu umgehen. Die Unterschiede
zwischen den politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen der
einzelnen Mitgliedsstaaten werden sich noch krasser zeigen, als es schon jetzt der Fall ist. Länder
wie Tschechien oder die Staaten des Baltikums haben ein BIP, das unter einem
Drittel des EU-Durchschnitts liegt. Große Teile der Wirtschaft sind noch in
staatlicher Hand und Kontrolle. Die Landwirtschaft stellt teilweise sogar noch den
größten Sektor dar.
Die Anpassung an das EU-Niveau wird nicht von heute auf morgen
funktionieren. Stimmen in den westlichen EU-Staaten bezeichnen dies vermehrt als
Gefährdung ihrer nationalen Prosperität und Stabilität. Sie fordern, die
EU-Integration müsse in Zukunft flexibler gestaltet werden, damit fortgeschrittenere
Staaten auch in einer Union der 27 ihre Dynamik nicht verlieren. Staaten wie
Frankreich und Deutschland könnten dann Vereinbarungen eingehen, die sie
unabhängig von den zurückliegenden Staaten beschließen und realisieren. Die
vorgebliebenen Länder können dann in dem ihnen möglichen Tempo hinterherkommen.
De facto ist diese Flexibilisierung bereits heute in Teilen der EU-Politik
möglich. Der EG Vertrag erlaubt in Artikel 11 die "verstärkte Zusammenarbeit"
zwischen Teilstaaten der EU. Diese Klausel ist in Nizza nun noch erweitert
worden. Dennoch sind der Flexibilisierung noch einige Hürden in den Weg
gesetzt. So muss die Mehrheit der EU-Saaten einer solchen Teilabsprache zustimmen,
und das EP genießt ebenfalls ein Anhörungsrecht.
So ist es bisher selten zu einer "verstärkten Zusammenarbeit" gekommen. Das
bekannteste Beispiel ist wohl die Einführung des Euro (Wirtschafts- und
Währungsunion, WWU). 11 von 15 EU Staaten haben sich an der WWU beteiligt;
Großbritannien, Schweden und Dänemark behalten sich einen Beitritt ("opting-in")
für spätere Zeit vor. Griechenland konnte bislang die Bedingungen für eine
Teilnahme an der WWU nicht erfüllen.
Das Kalkül der Einführung des Euro liegt in seiner Überzeugungskraft. Eine
erfolgreiche Währungsunion müsse die nicht beteiligten Staaten schon davon
überzeugen, bald ebenfalls dem Bündnis beizutreten, so die Vorstellung. Auf
diesem Weg könnten innovative Projekte auch noch in einer Union der 27
Mitgliedsstaaten verwirklicht werden, selbst wenn ein Dutzend von ihnen anfangs nicht
den Sinn erkennt oder einfach nicht willens oder fähig ist, sie umzusetzen.
Gerade hier liegt aber die Gefahr der Flexibilisierung: Der starke
Unterschied zwischen starken und schwachen Mitgliedsstaaten könnte durch einen
Alleingang der "Elite" eine zunehmende Spaltung der Gemeinschaft führen. Kritiker
sehen dies als den ersten Schritt zu einem Europa der Klassen, in dem die
"zweite Liga" in den politischen Entscheidungen zum passiven Erdulder
("decision-taker") degradiert würde. Damit würde der Grundgedanke eines
gemeinschaftlichen und toleranten Europas unterlaufen. Nicht nur ökonomisch wäre dies ein
Desaster für Europa, denn die mittel- und osteuropäischen Staaten fielen nicht
nur als Wirtschaftspartner, sondern auch als Partner für den Frieden weg. Das
hätte langfristig ernste Konsequenzen für die Stabilität des Kontinents.
Es muss also eine Form der verstärkten Zusammenarbeit gefunden werden, die
den Kern der europäischen Gemeinschaft nicht verwässert. Den schwachen
Mitgliedsstaaten muss genügend Entscheidungsspielraum und Handlungsfähigkeit
zugesprochen werden, damit sie nicht ins Hintertreffen geraten, sondern im Gegenteil
wie beim Euro Nutzen und Antrieb daraus ziehen. Die Gemeinschaft darf nicht
zum Kulturimperialismus der Reichen verkommen. Die Vielfalt der Menschen und
Kulturen kann zur große Chance für ein friedliches Europa im 21. Jahrhundert
werden.
Allerdings müssen alle Beteiligten heute mehr Kompromissbereitschaft zeigen
als je zuvor. Gerade die östlichen Staaten werden anfangs auch großer
Unterstützung bedürfen, was Finanzen und Know-how betrifft. Dazu gehört auch, dass
die Politik der nationalen Interessen zurückgestellt wird. Das muss kein
Verlust sein, sondern kann im Gegenteil eine große positive Herausforderung
bedeuten. Die Konsequenzen nationalen Geschachers sieht man ja ganz aktuell in den
Streitereien zwischen Deutschland und Frankreich, die jede Innovation hemmen.
Schröder und Chirac müssen bei ihrem Treffen folglich ein offenes Bekenntnis
zu Europa äußern, wenn es auch kurzfristige Nachteile und Einschränkungen
mit sich bringen mag. Langfristig wird aber auch das Verhältnis zwischen
Deutschland und Frankreich davon profitieren.
 
 
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