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Die Grenzen der Individualität
Versuch einer Reflexion auf die gegenwärtige gesellschaftliche Orientierung
Waldemar Ockert
Albert Schweitzer hat in seiner Theorie vom "Verfall und Wiederaufbau der Kultur" die Individualität als Träger der kulturellen Entwicklung hervorgehoben und sie dem Verfall durch Abstumpfung der geistigen Leistungsanforderungen gegenüber gestellt. Nach seiner Theorie kommt es seit der Industrialisierung durch die Spezialisierung der Arbeit zu einer degressiven Entwicklung der Kultur. Der Mensch verliert durch mangelnde Reize seinen Willen zur Selbstverwirklichung. Er begnügt sich mit anspruchslosen Medien und Gesprächen und hat weder Interesse an seiner eigenen und noch an der geistigen Entwicklung der Gesellschaft. Konsequenterweise kann er kein Interesse an seinen Mitmenschen aufbringen. Die Humanität in der Gesellschaft kann damit keinen Wert mehr darstellen. Die Menschen vereinsamen in ihrer selbst erschaffenen, unmenschlichen Gegenwart. Der Ausweg aus der Kulturlosigkeit besteht in der Förderung der Individualität in der Gesellschaft. Allein dadurch können starke Persönlichkeiten eine aufblühende Kultur hervorbringen.
Betrachtet man die gesellschaftliche Entwicklung der BRD, so kann man mit Bestimmtheit behaupten, dass sie stark durch wirtschaftliche Verhältnisse beeinflusst worden ist. Der Mensch hat als Individuum seinen Wert in der Gemeinschaft verloren. Die Humanität existiert zumeist nur in Gedanken und Worten. Die Gründe sind nicht eindeutig bestimmbar, aber wichtige Faktoren waren sicherlich das kapitalistische System und der enorme Reichtum der Bevölkerung. Außerdem kann dem Bildungssystem teilweises Versagen vorgeworfen werden, da es der Verpflichtung zur humanistischen Erziehung nicht nachgekommen ist und die Gedanken der Schüler stark egozentrisch ausgerichtet hat. Sicherlich hat Deutschland dem kapitalistischen System seinen Reichtum und seine Position als westliche Wirtschaftsmacht zu verdanken, aber dabei darf der soziale und kulturelle Aspekt nicht vernachlässigt werden, der unter dieser gesellschaftlichen Attitüde leiden musste. Der Kultur wird immer weniger Bedeutung beigemessen, was langfristig als kultureller Verfall bezeichnet werden kann.
Dabei drängt sich die Frage auf, ob, und wenn, wie oder durch wen dieser verhindert werden kann. Wenn man Schweitzers Gedanken weiterführt, liegt die Verantwortung in der Erziehung und damit zweifellos auch beim Staat. Der Staat muß demnach mehr in das Bildungssystem investieren und dabei die humanistische Erziehung intensivieren.
Diesen Interventionen stehen die wirtschaftlichen Interessen gegenüber. Auch wenn die soziale Marktwirtschaft gesetzlich zur sozialen Fürsorge verpflichtet, kann die Macht der Wirtschaft kaum bestritten werden.
Konkret propagiert das Theorem, die Individualität zu fördern. Ob das der wahre Ausweg sein, ist fraglich. Die moderne Gesellschaft entfernt sich weiter von der Möglichkeit, sich homogen einordnen zu lassen. Es ist selten möglich, Kriterien anzulegen, die für eine breitere Öffentlichkeit Validität für sich beanspruchen können. Die Gesellschaft steuert immer stärker einer pluralistischen Orientierung entgegen. Dieser Pluralismus hat eine noch nicht gekannte Individualität hervorgebracht. Doch dass dadurch die Kultur eine starke Entwicklung genommen hätte, ist nicht erkennbar.
Der Ausweg aus der Kulturlosigkeit sollte entgegen Schweitzer, der die Schuldfrage stark in der Philosophie konzentrierte, in genau dieser zu suchen sein. Nach Schweitzer hätte nämlich die Philosophie seit Kant und Hegel ihre Aufgabe, dem Volk lebensnahes, geistiges Wirken zu ermöglichen und existenzielle Fragen zu beantworten, verfehlt und sei eine elitäre Geistigkeit geworden. Doch diese Zeiten scheinen schon lange vorbei, denn das zwanzigste Jahrhundert hat mit den französischen Intellektuellen durch Sartre, Camus, Glucksmann, ... gezeigt, dass die Philosophie immer noch imstande ist, Fragen des wahren Lebens zu beantworten und dem Volk dienlich zu sein.
Also müssen wir selber anfangen, uns intensiv um unser eigenes und auch über Leben in der Gesellschaft Gedanken zu machen, dürfen dabei aber die Humanität nicht vernachlässigen.
 
 
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14.01.2001
Leuchtendes Beispiel im Karteikasten der Philosophiegeschichte: Albert Schweitzer |