Aufbruch oder Zusammenbruch?

Analyse der durch den Machtwechsel in Jugoslawien entsandenen Möglichkeiten und Risiken

Andre G. Nadler

Möglich gemacht wurde der Machtwechsel durch Slobodan Milosevic selbst, dem die Verfassung keine weitere Amtszeit ermöglichte. Um sich die Macht zu erhalten und zumindest den Schein der Legalität zu wahren, ließ er die Verfassung ändern und setzte die Volkswahl des Präsidenten an die Stelle der bisherigen Wahl durch das Parlament, frühere Amtszeiten sollten keinen Einfluß auf die Möglichkeit des Kandidaten mehr haben, sich zur Wahl zu stellen. Am 22. Juli setzte der Diktator den vorgezogenen Wahltermin auf den 24. September fest, gut einen Monat später formierte sich die Opposition zum Wahlkampfbündnis DOS. Viel spricht dafür, dass bereits zu diesem Zeitpunkt der Organisator Zoran Djindjic hieß, der jetzige Ministerpräsident Serbiens. Zum Präsidentschaftskandidaten wurde Vojislaw Kostunica gekürt, ein Mann, der persönlich integer, nicht mit dem Makel der Korruption behaftet, die Sympatien des Volkes auf sich vereinen konnte und im Wahlkampf durch seine Volksnähe eine große Popularität erlangte. Im Gegensatz zu Djindjic war er während des Kosovokrieges im Land geblieben und konnte von den Sozialisten auch nicht der Zusammenarbeit mit der NATO bezichtigt werden. Es waren vermutlich Gründe dieser Art, die den eigentlichen Führer der Opposition, Djindjic, dazu bewogen, auf eine eigene Kandidatur zu verzichten und einem Kandidaten aus der zweiten Reihe den Vortritt zu lassen. Die Entscheidung des Wahlkampfbündnisses aus 18 Parteien begann sich auszuzahlen, vier Tage vor den Wahlen führte Kostunica in allen Umfragen vor Milosevic, obwohl die herrschenden Sozialisten mit allen Mitteln versuchten, seinen Wahlkampf zu behindern. So wurden die Sendungen des staatlichen Fernsehens zu Propagandasendungen für Milosevic gemacht, die meisten Zeitungen berichteten in seinem Sinne. Am Wahltag wurde dann in den meisten Orten internationalen Beobachtern der Zutritt zu den Wahllokalen verweigert. Doch alle Repressionen blieben erfolglos, am 25. September konnte das DOS-Hauptquartier den Sieg seines Kandidaten Kostunica bekanntgeben, der landesweit über 55% der Stimmen erhalten hatte.

Wie es zu erwarten gewesen war, erkannte das Regime den Wahlsieg der Opposition nicht an. Die Milosevic-hörige Wahlkommision gab zwar zu, dass Kostunica mehr Stimmen erhalten habe als Milosevic, behauptete jedoch, dass er die absolute Mehrheit knapp verfehlt habe. Aus diesem Grund verlangte sie eine Stichwahl.

Die Entscheidung der Wahlkommision hatte unerwartete Folgen. Das nun von Kostunica und Djindjic gemeinsam geführte Parteienbündnis DOS rief zu landesweiten Großdemonstra- tionen auf, Hunderttausende folgten in den nächsten Tagen dem Aufruf. Zunächst hatte es den Anschein, als ob Milosevic diese Volksempörung ebenso aussitzen wolle wie die Zajedno-Bewegung im Winter 96/97. Dann wurde am 2. Oktober ein landesweiter Generalstreik verkündet, der weitestgehend befolgt wurde. Zum Symbol des Konfliktes wurde schon in den ersten Stunden die Mine Kolubara südlich von Belgrad. Am vierten Oktober versuchte die Polizei, die Mine zu räumen, scheiterte jedoch. Auf die Nachricht vom Angriff der Sicherheitskräfte kam der Sieger der Wahl, Kostunica, persönlich nach Kolubara, wo ihm die Bergleute einen triumphalen Empfang bereiteten. Am selben Tag stellte DOS dem herrschenden Regime ein Ultimatum, in dem der Rücktritt Milosevics bis 15.00 des nächsten Tages verlangt wurde und der staatliche Fernsehsender aufgefordert wurde, seine Politik unverzüglich zu ändern und fortan objektiv über den Gang der Ereignisse zu berichten. Gleichzeitig wurde zu einer zentralen Kundgebung in Belgrad aufgefordert, aus allen Landesteilen rief man die Anhänger der Opposition zusammen. Initiator und Organisator der Revolution war wiederum Zoran Djindjic, ihr Held sollte ein anderer werden. Velimir Ilic, der Bürgermeister der Stadt Cacak, rief die Einwohner seiner Stadt nach Bekanntwerden des DOS-Pamphlets auf, einen Konvoi zusammenzustellen und auf Belgrad zu marschieren. Am nächsten Morgen brachen sie mit 50 Bussen, weit über tausend Autos und einem Bulldozer zum Durchbrechen der erwarteten Polizeisperren auf. Um 10.30 Uhr gelangten sie ins Zentrum Belgrads, die Versuche der Sicherheitskräfte, sie aufzuhalten waren erfolglos gewesen. Am ersten Versuch, das Parlament zu stürmen, nahmen sie noch nicht teil, der zweite, erfolgreiche wurde um 16.00 von den vorbereiteten Cacakern initiert, die von militärisch erfahrenen Männern geführt wurden. Velimir Ilic konnte stolz auf sich und seine Organisation sein, als Bürger seiner Stadt auch beim Sturm auf das Gebäude des staatlichen Fernsehens in vorderster Front aktiv waren. In einem Interview gab er später an: "Ich hatte mich entschlossen, alles zu wagen. Es interessierte mich nicht, was mir passiern würde. Alles, was ich wußte, war, dass ich nicht wieder zurückkehren konnte, wenn wir scheiterten." Um 18.30 Uhr sprach Kostunica zu einer halbern Million Anhänger, und erklärte, stolz darauf zu sein, zum Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien gewählt worden zu sein. Eine Stunde später war das komplette Zentrum Belgrads in den Händen der Aufständischen, die Sicherheitskräfte hatten sich ihnen entweder angeschlossen, oder waren geflohen. Mit diesem 5. Oktober hatte die Revolution in Belgrad und Jugoslawien gesiegt, was folgte, war die konsequente Ausnutzung des einmal errungenen Vorteils. Es wurde eine Regierung gebildet, in der die Sozialisten zwar nominell gleichberechtigt waren, die entscheidenden Posten wie z.B. das Innenministerium in den Händen von DOS-Politikern lagen. Parlamentswahlen wuden festgesetzt, ihr Ergebnis überraschte niemanden - Sie ergaben eine Zweidrittelmehrheit für DOS. Milosevics Sozialisten wurden zur 15%-Partei degradiert, die Nationalisten kamen auf gerade einmal 5%.

Auf den ersten Blick scheinen die Voraussetzungen für eine demokratische Entwicklung in Jugoslawien gut zu sein, die herschenden Parteien haben es in der Hand, die Verfassung zu demokratisiern, sie können zudem auf die Hilfe des Westens rechnen, wo man in den siegreichen Anführern des Wahlkampbündnisses nur zu gerne gute Demokraten sehen würde. Die ersten Dollarmillionen sind bereits zugesagt, die EU und die USA wollen insgesamt 400 Mio. zur Verfügung stellen.

Die Risiken für die neue Regierung werden noch vom Glanz der Revolution überstrahlt, sind jedoch schwerwiegend. Sie reichen sogar bis in den inneren Zirkel der neuen Regierung hinein. DOS, das sind 18 verschiedene Parteien, die größten sind die von Kostunica und Djindjic, die knapp die Hälfte der Sitze des Bündnisses auf sich vereinen. Die Interessen der verschiedenen Parteien sind alles andere als übereinstimmend, zusammengebracht hat sie ein Ziel, die Ablösung Milosevics. Schon die nächsten Monate könnten Risse im Gefüge dieses Bündnisses bringen. Die nächste Sollbruchstelle ist die zu erwartende Rivalität zwischen den beiden profiliertesten Politikern der Regierung. Initiator der Revolution, durch Intelligenz und Organisationstalent, Erfahrung und Machtwillen der geborene Führer der neuen Regierung ist Zoran Djindjic. Vojislaw Kostunica hat von einer Gelegenheit profitiert, die das Werk Djindjics war. Er hat sich eine breite Aktzeptanz in der Bevölkerung erworben und ist Inhaber des wichtigsten Amtes in der Bundesrepublik Jugoslawien. Djindjic hat ihm den Vortritt gelassen, weil er in seinen Augen die besten Chancen hatte, Milosevic zu verdrängen. Ob er auch weiterhin gewillt ist, ihm den Vortritt zu lassen, muss sich noch zeigen. Es mag sein, dass er versucht, mit Montenegros Präsident Djucanovic zu einer Einigung zu kommen, die Montenegro eine weitgehende Selbstständigkeit zugestehen würde und das Amt des Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien unnötig machen würde, es zumindest in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen würde.

Ein solches Manöver würde jedoch das Parteienbündnis DOS sprengen, energische Reformen unmöglich machen. Für die nächste Zukunft ist es zumindest unwahrscheinlich. Weitaus eher im Bereich des Möglichen liegen Rivalitäten auf mittlerer Ebene, zwischen kleineren Parteien, die sich in der Regierung nicht ausreichend vertreten sehen. Querelen dieser Art dürften schon die nächsten Monate bringen, sie lassen sich nicht verhindern.

Bedeutsamer als die zu erwartenden politischen Verwerfungen sind die wirtschaftlichen Probleme. Das Monatseinkommen in Jugoslawien liegt heute bei 50 Dollar, wenn man die Staatsschulden gleichmäßig auf die Bevölkerung verteilen würde, hätte jeder Jugoslawe einen Schuldenberg von 4000 Dollar abzutragen. Die Infrastruktur ist seit Jahrzehnten immer maroder geworden und das Bombardement der NATO trug nicht eben zu ihrer Verbeserung bei. Die Menschen in Belgrad haben nur noch stundenweise Strom, trotz der geplanten Abschaltungen kommt es immer noch zu Ausfällen. Die Inflation erreichte im vergangenen Jahr 20%, vier Fünftel der Firmen des Landes arbeiten defizitär. Diese Situation wird die herrschende Euphorie schnell in sich zusammenfallen lassen, wenn nicht schnell und umfassend abgeholfen wird. Diese Hilfe kann nicht aus dem Land selbst kommen, sie muss von den westlichen Nationen getragen werden. Deren Haltung zu Belgrad wird wesentlich vom weiteren Kurs der neuen Regierung abhängen. Handelt sie im westlichen Sinne, so wird es Hilfe geben, die zumindest ausreichen wird, die schlimmsten Mißstände abzustellen. Tut sie es nicht, wird die Hilfe ausbleiben. Auch in diesem, außenpolitischen Bereich sind schon die ersten Differenzen zu erkennen. Das Hauptproblem ist der ehemalige Diktator selbst, das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verlangt seine Ausliefrung und wird auf den Vorschlag eines Prozesses auf jugoslawischem Boden nicht eingehen können, ohne seine Autorität zu beschädigen. Die Chefanklägerin Carla del Ponte wird dies vermutlich auch nicht zulassen. Somit ist die Regierung in einer verfahrenen Situation. Sie kann den Diktator nicht ausliefern, ohne an Rückhalt im Volk zu verlieren, der antiwestliche Nationalismus ist zu lange geschürt worden, als dass er nun ohne Spuren zu hinterlassen verschwinden würde. Eine Auslieferung würde in den Augen des Volkes eine Kollaboration darstellen, sie würde den aufgrund der wirtschaftlichen Misere ohnehin zu erwartenden Prestigeverlust verstärken.

Abgesehen von diesem Prestigeverlust ist noch ein weiteres Motiv der neuen Regierung zu vermuten. Ihre Führer, Djindjic wie Kostunica, sind in der Vergangenheit nicht immer die guten, freiheitsliebenden Demokraten gewesen, als die sie sich nun im Westen darstellen wollen. Es ist bekannt, dass Djindjic während der Belagerung Sarajewos mit Radovan Karacic zusammengetroffen ist und zwischen den beiden ausgezeichnetes Einvernehmen geherrscht habe. Es gibt Bilder, die die beiden beim gemeinsamen Rösten eines Ochsen auf einer Feier von Karacics Soldaten zeigt. Auch Kostunica hat lange Zeit nur die Art und Weise kritisiert, in der Milosevic die Kriege der neunziger Jahre dirrigiert hat, seine Kritik an den Kriegen selbst ist durchweg jüngeren Datums. Es mag sein, dass zumindest Djindjic weiter in die Machenschaften des Regimes verstrickt ist, als heute bekannt ist. Daher wird er eine Auslieferung Milosevics verhindern wollen - um zu vermeiden, dass der ehemalige Dikatator ihn mit seinen Aussagen kompromittiert.

Ein weiteres außenpolitisches Problem stellen die Nachwirkungen des Kosovo-Konfliktes dar. Auf lange Sicht kann die neue Regierung das NATO-Protektorat nicht anerkennen, keine Regierung der Welt kann eine Abtrennung einer Provinz des Landes anerkennen, ohne in den Augen des Volkes Verrat an den nationalen Interessen zu begehen. In Serbien ist aufgrund des über Jahre hinweg geschürten Nationalismus die Lage eher noch kritischer zu beurteilen. Doch dieses Problem wird sich in seiner Brisanz erst im Laufe der Jahre auswirken, es stellt einen latenten Konfliktherd dar. Akut ist die Gefahr im Presevotal, einem serbischen Gebiet an der Grenze zum Kosovo, das mehrheitlich von Albanern bewohnt wird. Aus seinen Bewohnern rekrutiert sich eine Guerillabewegung, die verantwortlich ist für Anschläge, Überfälle und Entführungen in dem genannten Gebiet. Der Nachschub der Guerillas kommt durch das Kosovo, bisher ist es der Kfor nicht gelungen, ihn zu unterbinden. Früher oder später wird sich die serbische Regierung gezwungen sehen, Truppen in das Gebiet zu entsenden, um die Guerillas zu verjagen. Durch eine solche Bewegung würde eine neue Flucht welle ausgelöst werden, die weltweites Medienecho hervorrufen und zu Spannungen mit der NATO führen dürfte.

Zusammenfassend muss man sagen, dass die jugoslawische Regierung vor Heraus- forderungen steht, wie sie in dieser Art keine andere Regierung eines Staates aus dem ehemaligen Ostblock zu bewältigen hatte. Die Erfahrungen, die etwa Polen oder Tschechien gemacht haben, wird auch Jugoslawien nicht umgehen können. Die witschaftliche Gesundung ist auch in diesen Fällen ein langer und schmerzhafter Prozess, der noch immer andauert. In Jugoslawien hat die Modernisierung zehn Jahre Verspätung, durch Korruption und Vettern- wirtschaft unter Milosevic wurden Werte vernichtet, die in anderen postkommunistischen Ländern noch vorhanden waren, als die Wende eingeleitet wurde.

Die wirtschaftlichen Probleme sind tiefgreifender als in den anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks und im Gegensatz zu diesen kommen noch politische Problem dazu, die allein Potential genug für mehrere Krisen in sich tragen. Es ist mehr als fraglich, ob die jugo- slawische Regierung in ihrer momentanen Bestzung in der Lage ist, einenKurs zu steuern, der alle erwähnten Klippen vermeidet.


   
14.01.2001