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Silvesterimpressionen in Heidelberg
Wie verbringt man eine Silvesternacht im romantischen Heidelberg? Andre G. Nadler hat es dokumentiert...
Andre G. Nadler
Was ist schöner als eines der großen Feste des Jahres in Gesellschaft guter Freunde in einer Großstadt zu verbringen und eine ganze Nacht lang zu feiern? "Wenig bis nichts", lautet die Antwort, die die moderne Gesellschaft gibt, es ist einfach nichts vorhanden, was über gemeinsam erlebte Glücksgefühle hinausgeht. Ganz ähnlich muss der Gedankengang einer Gruppe gewesen sein, die bei der Ausübung des alljährlichen Rituals zu beobachten ist. Aus ganz Deutschland sind sie gekommen, um die Gemeinschaft aufzufrischen, die sie seit Jahren zusammenhält und immer wieder zusammenbringt. Kaum sind sie eingetroffen, am Morgen des 31. Dezembers, so fangen sie auch schon an zu reden, sich zu unterhalten, bald diskutieren sie über Gott und die Welt. Nach der ersten Begrüßungseuphorie bestimmt ein nüchternes Thema das Gespräch - man macht Pläne für die bevorstehende Nacht. Nach wenigen Minuten kommt die Gruppe zu dem Schluss, die gesamte Nacht zu feiern und
bis zur Abreise am nächsten Morgen durchzuhalten. Die Stadt bietet viel, einige der Anwesenden kennen sich gut aus, so dass man kein Problem haben wird, die beste Party zu finden. Die Straßenbahn wird bestiegen und einige Minuten später am Bismarckplatz, dem vorgelagerten Kontenpunkt der Heidelberger Innenstadt verlassen. Es ist jetzt erst zwei Uhr nachmittags und nicht sonderlich kalt. Es fällt ein wenig Schnee, vor den Lichtern der Schaufenster geben die Flocken ein fast kitschig anmutendes Bild, zumal es auch ein bisschen
dämmerig geworden ist. Es ist viel los in der Stadt, wesentlich mehr als am vorangegangenen Samstag. Wie auf geheime Verabredung strömen die Menschen in die Stadt, um sich zu vergnügen, um zumindest in einer Nacht glücklich zu sein. Einmal im Jahr soll das Glück gezwungen werden. Jede Straßenbahn spuckt neue Menschen aus, sie überqueren die zwischen Innenstadt und Haltestelle liegende Fahrstraße und brechen auf in die Kneipen, in die Kinos und Cafes.
Diese Gruppe verhält sich nicht wesentlich anders. Es sind junge Menschen, mit offenen Gesichtern, sie erinnern sich anscheinend auch noch an die Zeit, in der sie Kinder gewesen sind. Kaum aus der Straßenbahn heraus, bückt sich der erste, um seinen Nachfolger mit einer Ladung Schnee zu begrüßen. Scheinbar wutentbrannt erwidert der das Feuer und auch der Rest läßt sich die Gelegenheit nicht entgehen. Nachdem jeder mit den ziemlich feuchten Schneebällen Bekanntschaft gemacht hat, folgen sie dem letzten Pulk, der die Straße überquert hat und schauen sich nach einer Vergnügungsmöglichkeit um. Die Wahl fällt auf das Kino, dort angekommen müssen sie jedoch feststellen, dass die nächste Vorstellung erst um 17 Uhr stattfindet und nach Auskunft der Kassierer überdies noch ziemlich voll sein wird. Die Aussicht, eine halbe Stunde in einer Warteschlange zu verbringen wirkt wenig ermutigend, so dass man sich erst einmal in eine Kneipe begibt und die ersten alkoholischen Getränke zu sich nimmt. Mit der allgemeinen Situation zufrieden, verkündet ein Teil der Anwesenden, dass man erst einmal bleiben solle wo man sei - die richtig coolen Bars und Discos würden ohnehin erst ab zehn Uhr aufmachen. Daher sei es sinnlos, noch länger in der Kälte herumzuwandern. Dagegen ist kaum etwas einzuwenden, man bestellt sich etwas zu essen, um eine Grundlage zu schaffen für den Alkohol, dessen Konsum unabdingbarer Bestandteil geselligen Vergnügens ist. Damit pünklich um zwölf die beste Stimmung erreicht wird, beginnt man mit dem erwähnten Konsum recht früh, das ist hier so wie in jeder anderen Lokalität der Stadt.
Worüber unterhält man sich in solch einer Situation? Man redet vor allen Dingen davon, was man tun könne, um den Spaßgewinn zu maximieren. Möglickeiten werden vorgeschlagen und verworfen, wieder vorgebracht und noch einmal diskutiert. Im allgemeinen beginnt es damit, dass einer der Anwesenden den stereotypen Satz "Wie wäre es mit dem...?" ausspricht, in dem die Punkte für den Namen der Kneipe/Bar/Disco stehen. Sollte ein Teil der Anwesenden die Lokaität nicht kennen, wie es hier offensichtlich der Fall ist, stellt einer von ihnen die Frage, was sich unter dem erwähnten Namen verbirgt. Merkwürdigerweise gibt nun nicht der erste Sprecher die Antwort sondern ein anderer, der häufig ein Kritiker ist. Mit wenigen Worten heißt er den Plan gut oder verwirft ihn, wobei das meiste Gewicht seine Mimik ist.
Stimmt er zu, so ist es eine lässige Zustimmung, deren Lässigkeit deutlich machen soll, dass er selbst auch schon daran gedacht habe, aber dieser Vorschlag bei ihm nur zweite oder dritte Wahl sei. Wahrscheinlich aber ist eher, dass solches Verhalten nur den Unmut verbergen soll, der entsteht, wenn ein anderer die bessere Idee hatte.Es ist gut möglich, dass sich unter solch betont lässiger Zustimmung der Gedanke "Warum bin ich nicht selber darauf gekommen" verbirgt.
Verwirft er den Vorschlag, so ist eine ausdrucksreichere Mimik als in jeder anderen Unterhaltung zu konstatieren. Hochgezogene Augenbrauen, zusammengezogene Mundwinkel, ein gewolltes, ironisches Lachen, alles ist zu beobachten - und wird erstaunlicherweise nicht übel genommen. Es gehört zum Spiel, und wird nicht so ernst genommen wie im wirklichen Leben. Der auftretenden Mimik können die sachlichen Argumente nie das Wasser reichen. Sie bleiben merkwürdig vage, verschwommen, selten
wird einen Kneipe, eine Bar genauer beschrieben, oder eigentlich nie. "Der Laden?!" mag das Urteil über eine Disko sein, von der der Sprechende nur gehört hat. Vielleicht gibt ihm nur eine allgemeine Abneigung dem modernen Tanzvergnügen gegenüber diese Worte ein. Aber es wird hingenommen, häufig unwidersprochen, und ein neuer (oder alter) Vorschlag gemacht, auf den dann dieselbe Prozedur folgt.
Es ist eine merkwürdige Sterilität in diesen Planungsdiskussionen des Vergnügens, sie sind ziellos, führen selten irgendwo hin. Es ist, als ob ihr wichtigster Zweck in ihnen selbst liegt,
als ob dieses vorherige Reden notwendiger Bestandteil einer gelungenen Nacht ist. Ihren Abschluss finden derartige Debatten eigentlich nie mit einer Lösung, einem Vorschlag, mit dem der Großteil der Anwesenden einverstanden sind. Normalerweise wächst im Laufe der Zeit die Anzahl der Gelangweilten, so dass ein beliebiger Vorschlag akzeptiert wird, oft nicht einmal derjenige, der die meisten Anwesenden für sich gehabt hätte. Meistens genügt es, dass er einer der letzten dikutierten ist. Die erwähnte Gruppe beweist große Ausdauer, fast zwei Sunden lang debattiert man mit Verve, wenn auch ohne Argumente. Dann aber tritt das Stadium der Erlahmung ein und man macht sich auf zum Kino, um das jüngste Produkt Hollywoods, "Unbreakable" in Augenschein zu nehmen. Es ist wie alle anderen, nicht nötig, auf seinen genauen Hergang einzugehen. Unzerbrechlich - das ist heute keiner mehr, oder alle sind es. Man wird nicht mehr auf die Probe gestellt. Man glaubt einfach, es zu sein, wenn man aus einem Film nach Hause geht, in dem man sich mit dem sieghaften oder tragisch untergehenden, in jedem Fall aber idealisierten Helden identifiziert hat. Den Beweis bleibt man schuldig, es ist auch besser, dass man ihn heute schuldig bleiben kann, oder ihn liefert in einer Situation, deren Gefahr nur gespielt ist.-
Etwas aufgekratzt verläßt man das Kino um dann ziellos durch die Stadt zu schlendern. Jeder benötigt den Wind in seinem Gesicht, um mit seinen Gefühlen ins Reine zu kommen, um sie noch einmal zu genießen und dann zurückzukehren in die normale Welt. Ziemlich unvermutet taucht eine kleine Caribean Bar auf, die sofort gestürmt wird. Die nächsten Stunden vergehen unter allgemein seichter Unterhaltung, Thema ist die Qualität der Cocktails, die in der kleinen Bar im Schatten der zentalen Kirche, unterhalb des Schlosses gelegen, nicht zu verachten sind. Hin und wieder wird auch das nächste Treffen andeutungsweise erwähnt, allein die zunehmende Alkoholisierung verhindert, dass man ins konkrete Detail geht. Man einigt sich auf ein Datum im März und eine vage Lokalisierung im Ruhrgebiet. Es wird weiter getrunken, die Musik wird lauter und die Unterhaltung beschränkt sich auf die sonst nur in den Diskotheken üblichen Satzfragmente, die fast schon geschrien werden müssen. Der erste Moment nach dem Verlassen der Bar wirkt unglaublich still, erst nach und nach erhalten die ständigen Explosionen der Knaller ihre Wirklichkeit zurück. Zwei Möglichkeiten stehen zur Auswahl, um das Feuerwerk zu beobachten. Zum einen könnte man sich aufs Schloss begeben, um dort inmitten der allgemeinen Ausgelassenheit das Feuerwerk zu genießen. Die andere ist der Philosophenweg, ein Höhenweg, der den auf der anderen Seite des Flusses gelegenen Hang entlangführt. Man entscheidet sich für die zweite Variante, ein steiler Fußweg führt den Hang hinan, der in der Kälte der ersten Nachtstunden ziemlich glatt geworden ist. Oben angekommen, geht man den Philosophenweg ein Stück weit ab, um den besten Ausblick zu gewährleisten. An einer windgeschützten Stelle stellt sich die Gruppe auf und schaut hinunter ins Tal, in dem ein wenig Nebel liegt - ob er natürlichen Ursprungs ist, oder von den Knallern und jetzt schon zahlreichen Raketen stammt, ist nicht zu sagen. Oben am Hang vertreibt man sich die Zeit, indem man die lustigste Möglichkeit zu ergründen sucht, einen Knaller zur Detonation zu bringen. Es ist noch eine halbe Stunde bis zwölf, man versucht die Kälte zu vergessen, indem man sich darüber unterhält, wie man sich am besten schützt. Außerdem wird debattiert, ob um zwölf herum das wirkliche Feuerwerk mit einem Schlag beginnen werde oder schon in den Minuten zuvor ein Anstieg zu verzeichnen sein werde. Die Erfahrung bestätigt die zweite These, nicht ganz Heidelberg scheint mit Schweizer Uhren ausgestattet zu sein. Es ist trotzdem ein beindruckendes Bild, dass sich bietet: Die Lichter der Stadt und der angestahlte Rauch in den Gassen, die aufsteigenden Raketen, der Fluß mit der Brücke, auf der sich ein Zentrum des Spektakels zu befinden scheint, das beleuchtete Schoß, dessen scharfe Konturen einen Kontrast zu dem ein wenig in der Dunkelheit verschwimmenden Rest der Stadt bilden, der dunkle Gegenhang mit den Türmen der Sendestation und über allem der wolkenlose Himmel der kalten Winternacht.
Die Szenerie überdauert nur eine Viertelstunde, dann wird die Intensität des Feuerwerks wieder geringer und die Kälte fühlbarer. Der Aufbruch wird verhandelt und beschlossen, man wagt den Abstieg über denselben glatten Fußweg, über den man gekommen ist. Überraschenderweise geht es ohne Stürze ab, so dass man sich unten in der Stadt wieder auf die Suche nach einem Aufenthalt machen kann. Da auch alle anderen Leute zur gleichen Zeit
auf dieselbe Idee gekommen sind, ist diese Suche von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Die Kneipen und Bars lassen nur noch hinaus, aber nicht mehr hinein. Schließlich landet man in einer vergrößerten Dönerbude, die das Geschäft des Jahres macht - mit den lieblosesten Produkten neuen Jahres. Zufälligerweise werden einige Tische frei, so dass man zunächst einmal im Warmen sitzt. Über das weitere Vorgehen sind die Anwesenden uneins, verständlicherweise wollen einige die Nacht noch nicht aufgeben. Daher folgt auf den stärkenden Imbiss eine weitere Suchaktion, die aber auch nicht von Erfolg gekrönt ist. Am Ende stehen sie am Ausgangspunkt des Abenteuers, dem Bismarckplatz, nur um festzustellen, dass die Staßenbahnen nicht mehr verkehrten.
Einer der Einheimischen hat sein Auto dabei, parkt jedoch etwa zwanzig Minuten entfernt. Zusammen mit einem Begleiter bricht er auf, um nach seiner Rückkehr die Verbliebenen in mehreren Fuhren zum Bahnhof schaffen zu können. Während seiner Abwesenheit taucht ein
ziemlich betrunkenes Mädchen auf, wie sich später herausstellt, ist sie BWL-Studentin. Kontakthemmungen scheint sie nicht zu haben, so sie im nüchternen Zustand vorhanden sind, hat der Alkohol sie jetzt ausgeschaltet. Eingehend beschäftigt sie sich mit jedem der Anwesenden, wenn ihre Charakterisierungen auch nicht immer treffend sein mögen, so haben sie doch den Reiz des Originellen und eigentlich Unmöglichen für sich. Ein aus dem Ruhrpott stammender Junge wird als waschechter Schwabe erkannt, seine ironischen Kommentare lassen die Besucherin zu dem Schluss kommen, dass er ein verzogener kleiner Kapitalist sei, für den nur das Geld zähle. Ein anderer mit leichtem russischen Akzent ist ihrer Meinung nach ein Österreicher. Sie scheint die hervorgerufene allgemeine Heiterkeit zu genießen, und wagt sich auf das psychologische Terrain. Ein mit dem Verlauf der Nacht reichlich unzufriedenes, spaßlechzendes Individuum, das innerlich vor Wut kocht, wird als vertrauenerweckender, liebenswürdiger und sanfter Typ hingestellt - vermutlich ob seines erfrorenen Gesamteindruckes. Zumindest ein sarkastisches Lächeln läßt sich auf seinen Lippen blicken, doch auch seine weiteren Beiträge zur Unterhaltung sind hauptsächlich zynischer Natur.
 
 
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08.01.2001 |