Shoot me in the heart

Ein Spaziergang durch London, einer Stadt mit vielen Problemen und dennoch unwiderstehbarem Reiz

Andreas Menn


Man ist aus dem Flugzeug gestiegen, in die Bahn umgestiegen und in die Tube eingestiegen, und nach ein bisschen Suchen steht man vor seinem Domizil der nächsten sechs Tage und merkt an den Rückenschmerzen, dass man und sein Reiserucksack schon die halbe Stadt durchquert hat.

Das Hotel ist - wie erwartet - schlimmer als erwartet.Eine Investition von 100 DM pro Nacht sollte doch zumindest einen gewissen Komfort mit sich bringen. Doch das Zimmer, das man nach gepäckbeladener Überwindung dreier maroder Treppenstufen betritt, scheint noch nicht einmal der Lagerung des Rucksacks angemessen zu sein. Der Putz blättert von den Wänden, das Bett ist nicht mehr als ein altes Holzgestell, dem es an Laken fehlt, und im Bad hängt eine hässliche leistungsschwache Neonröhre von der grauen Decke, deren Licht immerhin noch ausreicht, um die Sprünge in de Kacheln zu entdecken. Nachts kann man vor Lärm nicht einschlafen, weil die morschen Fenster das Getöse der auch dann noch vollbefahrenen Hauptverkehrs- strasse nur in begrenztem Maße abdämpfen.
Dass es einen Fernseher gibt, macht die Geschichte auch nicht besser, da er nicht funktioniert. So gesehen gibt es keinen Grund, in diesem Zimmer länger als nötig zu verweilen.

Also macht man sich auf ins große, weite London, und hofft inständig, keine abschrekenden Erlebnisse dieser Art zu haben.

Die ersten Schritte führen zum Hyde-Park, jenem großartigen Stück Grün, in dem samstags, wenn die Sonne scheint, halb London auf dem Rasen sitzt, den Enten bei dem zuschaut, was Enten den ganzen Tag über so machen, und sich gegenseitig beäugt.

Heute ist Samstag, die Sonne scheint vom makellos blauen Himmel, und die Atmosphäre im Hyde-Park ist eine Faszination an sich. Allein die Größe: Der Park ist eine kilometerweite Grünfläche, mitten in der Stadt gelegen, zwischen Paddington und Kensington, in der man, mit ein bisschen gutem Willen, schon keinen Verkehrslärm mehr hört. Die Menschen spielen Fußball und Frisbee, liegen im Gras und träumen, unterhalten sich, umarmen sich, küssen sich. Die Hektik des städtischen Alltags scheint an diesem Ort außer Kraft gesetzt, der monotone Arbeitsablauf weicht dem erquickenden Vergnügen. Über dem allem treiben ein paar Wattewölkchen dem Meer entgegen, dazwischen gleiten hin und wieder Flugzeuge auf der Suche nach dem City-Airport.

Nun gut, nicht alle liegen hier auf der Wiese, zum Beispiel nicht die weitestgehend dunkelhäutigen Kassierer, die bei Marks-Spencer eingeschweißte Sandwichs scannen, die einem das labbelige, hier in England so beliebte Weißbrot verkauft haben, das man dann selber, im Hyde-Park im Glanz der Sonne schlummernd, beinahe vergisst zu essen, weiles so vieles zu beobachten gibt im grünen Herz der Stadt.

Irgendwann entschließt man sich, weiter zu gehen, man kommt zum Buckingham-Palace, wo die Queen residiert, wenn oben auf dem Dach eine Flagge den Wind begrüßt, und das nicht tut, wenn oben keine Flagge hängt. Die Briten haben bekanntlich einen innigen Hang zur Monarchie, weshalb das sich das englische Königshaus aucheinige Privilegien genießen darf. Wenn der Hofstaat unterwegs ist, sperren flinke Motorradpolizisten auch mal schnell eine Strasse, um den Nobelkarossen freie Bahn zu verschaffen, wie es einem eines morgens unvermittelt an der Edgware Road widerfährt. Es soll sogar soweit gekommen sein, dass man zu den Olympischen Spielen im Jahre 1908 kurzentschlossen die seit der Antike verbriefte Strecke des Marathonlaufs um einige hundert Meter verlängerte, damit die Queen bequem vom eigenen Palast aus dem sportlichen Treiben beiwohnen konnte (bequem kommt nach Ansicht mancher illoyaler Gemüter auch von "to be Queen"). Allein deshalb müssen jetzt jedes Mal Tausende von Läufern jeweils 42,195 Kilometer zurücklegen statt etwas mehr als 39... Aber Queen bleibt Queen, da dürfen italienische Gastgeber eben keine Spagetti servieren, und wenn man morgens um elf versehentlich am Buckinghampalast vorbeizulaufen versucht, wird einem dies nicht gelingen, weil Massen von Touristen und Königshausverehrer den alltäglichen Wachwechsel mitverfolgen wollen. Die Soldaten der königlichen Leibwache sind ohnehin ein Ding an sich. Wer etwas weiter in Richtung City geht, kommt, nachdem er einen anderen wunderschönen Park durchquert hat und sich auf einer Parkbank mit seinem Sitznachbarn, einem stolzen Pelikan, unterhalten hat, zu einem reizenden Ort der Versuchung: In einer Wachhütte sitzt einer jener uniformierten Wachsoldaten, und zwar auf einem Pferd, und ist stetig bemüht, die Contenance zu bewahren. Dieser Sachverhalt stellt für Touristen aus aller Welt eine unglaubliche Verlockung dar, die sie dazu reizt, neckische Spielchen mit dem armen Mann zu treiben, der sich nicht rühren und kein Wort sagen darf. Da werden Grimassen gezogen, Fotos gemacht und Witze gerissen - ihrer Majestät Bediensteter darf keine Reaktion zeigen.
Ein Filmteam hat sich neulich ebenfalls dem Spiel mit den menschlichen Grenzen hingegeben, und einen jener Soldaten so lange gepiesackt, bis er, am Rande der Verzweiflung, den Spruch aufsagte, den die Medienleute von ihm verlangten. Unglücklicherweise lief die Kamera, das Material ging über den Sender, und der Soldat war schnell entlassen.

Das Königshaus gehört zu London, passt aber nicht hinein in die Metropole, die sich so weltoffen und tolerant gibt. Es ist eines der schwierigen Paradoxon der Stadt, mit denen nur der Brite selber problemlos klarkommt. Ein weiteres Paradox ist die Tatsache, dass es in London übernatürlich viele Taxis, Telefonzellen und McDonalds gibt, aber kaum Briefkästen. Entweder übersieht man diese Artefakte präelektronischer Kommunikationskultur bloß, oder es gibt sie wirklich nicht.

Das Straßengewirr ist auf den ersten Blick verwirrend, und wer sich nicht wirklich mit dem Lesen von Stadtplänen auskennt, sollte lieber gleich drauflos gehen, denn irgendwo kommt man immer an. Aus der City heraus kommt man nicht so schnell, denn die erstreckt sich über 15 Kilometer von Ost nach West und scheint kein Ende zu haben. Es fällt schwer, hier Unterschiede auszumachen, aber bald stellt man in groben Zügen fest, wo die Differenzen zwischen den Vierteln liegen. Als erstes gelangt man zum Piccadelly Circus, der jedem anzuraten ist, der mal eben etwas Marihuana einkaufen möchte. An den Fassaden der Gebäude flimmern noch immer die Werbetafeln von Coca-Cola und Nescafé, ganz als ob die Einhüllung städtischer Lebenskultur in gängige internationale Werbeslogans und Konsummuster ein Zeichen von Modernität sei.

Etwas weiter getippelt, und man kommt zum Leicester Square, dem unumstrittenen Zentrum nächtlicher Unterhaltung. Wobei auch hier differenziert werden muss. Wo man es in Köln gewohnt ist, dass die Partys um elf beginnen, oder in Tel Aviv die Clubs um eins aufmachen, wird in London schon um acht Uhr abends getanzt und getrunken. Um zehn ist dann ein großer Teil jenseits der Zurechnungsfähigkeit, aber weiterhin heftig mit dem Handy beschäftigt, um neue Verabredungen zu treffen.
Um diese Uhrzeit ist der stimmungsmäßige Höhepunkt erreicht, der Leicester Square ist überfüllt, auch weil viele aus den eineinhalb Dutzend Kinos strömen, die es hier im Umkreis von 500 Metern gibt. Straßenmusikanten spielen um die Wette, Bierdosen machen die Runde, und in den Cafés geht nichts mehr. Zwischen dem Getümmel liegen apathisch einige Obdachlose, denen der Platz wenige Stunden später schon wieder allein gehören wird.

Im Burger King ist die Hölle los, denn wer einen Snack will, geht zu einer der beiden Fast-Food-Ketten. Alternativen findet man nur in China-Town, wo es einige Imbisse gibt. Die Toiletten erinnern wieder an das Hotel-Zimmer in Paddington, aber man ist ja inzwischen abgehärtet. Genauso wie später durch die weiten Gänge der U-Bahn, in die um halb elf mehr Menschen strömen, als sonst zur nachmittäglichen Rushhour. Um Mitternacht fahren die letzten Züge, zu Hause ist man in London besser rechtzeitig.

Der nächste Morgen beginnt mit dem unschönen Gefühl des totalen Muskelkaters. Das Frühstück passt zum Hotel. Ganz im Sinne der Touristen-Versorgung gibt es jeden morgen zwei Spiegeleier mit einem geröstetem Brocken Schinken, dazu zwei Scheiben Toast, Marmelade und Instant-Kaffee, den man aus dem Büro kennt.

Hunger hat man, aber keinen Appetit. Ein Widerspruch, der den typisch britischen Nahrungsmitteln immanent zu sein scheint.

Schnell macht man sich auf den Weg in die Stadt, um erst einmal die klassischen Sehenswürdigkeiten durchzukontrollieren. Piccadely-Circus wie gehabt. Trafalgar Square - auch sehr schön. Der Big Ben steht gewohnheitsgemäß am Themse-Ufer und lässt sich lässig von der herbstlichen Vormittagssonne anstrahlen. Auf der anderen Seite des Flusses hat er Konkurrenz bekommen: Hier steht das durch seine Konstruktionsschwierigkeiten berüchtigte Millenniums-Riesenrad, das alle Londoner Gebäude überragt. Es bewegt sich dort allerdings nichts, genauso wie auf der Millennium-Bridge von Norman Foster, die einige hundert Meter weiter östlich die Themse überquert, dies aber leider nur allein für sich genießen kann, weil sie aufgrund technischer Konstruktionsmängel unbegehbar ist und momentan repariert wird. Zur Tate Galerie of Modern Art ist also kein so einfaches Hinkommen.

Man isst erst einmal ein Sandwich. Die erfreuen sich hier in London als typisches Nahrungsmittel für zwischendurch starker Beliebtheit. Sie bestehen aus dem klassischen britischen Weißbrot und wahlweise Salat, Schinken oder Käse. Dazu gibt es Ketchup, um den Zusammenhalt zu fördern. Satt wird man davon schon.

Das Themse-Ufer ist nicht gerade eine Flanier-Meile, am wenigsten im östlichen Teil der Stadt. Hier legten die Stadtplaner mehr Wert auf den Bau gläserner Bürohäuser, die man ständig umwandern muss, wenn man zu Fuß zur Tower-Bridge will. Der Weg dorthin ist ein einziger Slalom-Lauf und dadurch länger als erwartet. Aber der Sonnenuntergang über der Themse entschädigt einen für das Asphalttreten, und der Blick über die vielen Brücken hinweg bis hin zum Big Ben ist durchaus des Verharrens wert.

An der Tower-Bridge angekommen, ist es schon beinahe dunkel, und die Brücke erstrahlt mit einem Male in einem silbern-grünlichem Glanz der Flutscheinwerfer. Das pompöse Bauwerk erlangt eine stolze Eleganz, besonders dann, wenn man sich umdreht und den steinernen Tower erblickt. Die Betreiber dieses ehemaligen Vororts des Hades machen in der U-Bahn für den selben auf Plakaten Werbung mit den Gesichtern derer, die im Tower geköpft wurden. Darüber steht der Spruch: "Nicht nur sie fanden es schwer, wieder aus dem Tower herauszugehen."

Der britische Humor schlägt doch häufig einmal durch. Und nebenbei ist die Stadt Schauplatz knallharten Business, in dem es bisweilen um Milliarden geht. In der Fleet Street tritt das Wirtschafts-London am deutlichsten zu Tage. Wo früher Zeitungen gedruckt wurden, werden heute Konzerne geleitet. Die Anzugträger sind auf der Straße in der Mehrheit, und die Frauen tragen modisch-strengen Business-Look. Die Obdachlosen und Arbeitslosen findet man hier nicht. Der Straßenreiniger vor dem Bürohaus traut sich nicht, sich neben die Geschäftsleute auf die Bank zu setzten - er ist sein Mittagessen lieber im Stehen und setzt sich dann auf die Mauer.
Londons kulturelle Vielfalt ist durchaus ambivalent. Einerseits ist die ungewöhnliche Menge an Menschen verschiedener Kulturbereiche überwältigend. Viele tragen ihre Auffassung vom Leben schon in der Kleidung zur Schau. Andererseits gibt es einen deutlichen Bruch zwischen dem Normalbürger und der ebenfalls großen Zahl an wohlbegütertem Wirtschaftsmanagement, dem die Verbindung zu den einfachen Leuten zu fehlen scheint. Im Ritz residieren die Größen dieser Welt, nebenan in der U-Bahn betteln die Heimatlosen. Nachts fahren überdimensionierte Nobelkarossen mit getönten Scheiben durch die Stadt auf der Suche nach der abgedrehtesten Party, und aus den Hauseingängen schauen ihnen die Obdachlosen nach. Insofern ist London eine Stadt wie viele andere, nur noch eine Nuance stärker in ihren Extremen.

Am nächsten Morgen ist das Spiegelei einerlei, denn die Glieder schmerzen, und Schlaf tut Not. Also kommt man später aus dem Haus, und man hungert sich durch den Tag, weil selbst die kleinste Pizza im Pizza-Hut 18 Mark kostet. Die Briten mögen den Euro nicht, für den Touristen ist das keine angenehme Sache.

Dafür ist der Eintritt in die großen Museen kostenlos. Das lockt zu einem Besuch in der National Galery. Montags vormittags ist sie keineswegs ruhig und verlassen, sondern bevölkert von unzähligen Kunstliebhabern, Touristen und Schulklassen, die hier einen Überblick über die Malerei der letzten Jahrhunderte erhalten. Von Rubens bis Monet ist alles vorhanden, und nebenan im Neubau wird seit einiger Zeit die Sammlung mittelalterlicher Werke gezeigt. Man könnte allein im Museum einen ganzen Tag verbringen, doch gibt es noch so viel zu sehen, dass nur ein kurzer Besuch möglich erscheint.

Auf dem anderen Ufer der Themse gibt es seit kurzer Zeit eine der bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst: Die Tate Gallery of Modern Art. Mit ihrem charakteristischen Turm ist die ehemalige Lagerhalle kaum zu verfehlen. Auch hier ist der Eintritt kostenlos, und auf fünf Etagen werden dem Kunstliebhaber vorwiegend Werke des 20. Jahrhunderts geboten, die thematisch gegliedert und mit ausführlichen Erklärungen präsentiert werden. Hier bleiben keine Fragen offen, und das einzige, was stört, ist, dass die Cafeteria im obersten Stockwerk so unglaublich überfüllt ist. Essen und Getränke sollte man sich also vorher mitbringen.
Wenn man schon mal oben ist, erkennt man, dass das Treppensteigen doch gewiss nicht umsonst gewesen ist, denn die gläserne Fassade ermöglicht einen fantastischen Rundblick über die Stadt. Vorneweg thront die St. Pauls - Kathedrale, auf die die fostersche Millenniumbridge hinzuführt, themseabwärts erhebt sich die Tower-Bridge, und zur Linken erblickt man die Silluette des westlichen Teils der Stadt.

Die U-Bahn-Linie, die zur Tate führt, geht noch einige Stationen weiter und endet in den Docklands direkt am Millenniumdome. Die Stationen, die hier errichtet wurden, sind ein Fest der modernen Technik. Die Gleise sind von den Bahnsteigen getrennt durch eine durchgehende Glaswand, in der Türen integriert sind, an denen die Bahn jedes Mal in genauer Abmessung hält. Alles ist blitzblank und gepflegt. Die Linie ist, genau wie ihr Ziel, der Millenniumdome, ein Prestige-Projekt. Schade nur, dass die zuvor ehrgeizig vorausgesagten Besucherzahlen sich als Illusion erwiesen haben

Das Courtyard-Theater ist auf Anhieb gar nicht zu finden. Biegt man in die York Road ein, die sich rechts neben der King's Cross Station entlang zieht, dann fühlt man sich leicht in den Schauplatz eines Kriminalromans versetzt. Brüchige Häuser reihen sich auf der Rechten aneinander, die Fassaden bröckelnd, die Türen morsch, und zur Linken erhebt sich nur die gewaltige Backsteinfassade des Bahnhofs. Auf der Straße liegt der Müll, und wer weiter geht, kommt bald in eine verlassene Gegend, der auch die gelben Straßenlaternen keine Wärme einhauchen können. Insgesamt also eine ziemlich interessante Gegend.
Wo aber ist das Theater? Irgendwann findet man ein Haus, an dem noch eine Hausnummer hängt, und man merkt, dass man viel zu weit gelaufen ist. Auf dem Rückweg stößt man dann ganz unvermittelt auf eine unscheinbares, grün lackiertes Holztor, auf dem die Hausnummer 11 prangt. Hier muss es also sein, das Courtyard.

Zuerst wagt man gar nicht, einzutreten, denn beim Blick durch die Tür schaut man in einen kleinen Hof, der alles andere als öffentlich aussieht. Ein Auto steht unter einem kleinen Vordach, mehrere Türen führen anscheinend zu verschiedenen Privatwohnungen. Aber das Haus ist das Richtige, und so geht man, von Neugier getrieben, weiter in den Hof hinein, bis man links den kleinen Eingang des Theaters entdeckt. Dieser führt zu einem Raum, der als Lounge eingerichtet ist. Hier befindet sich die Kasse, und in gemütlichen Stühlen und Sesseln sitzt eine Handvoll anderer Gäste, die sich leise unterhalten.

Spätestens in dieser familiären Atmosphäre wird einem die Besonderheit des Theaters bewusst. Das Courtyard ist eines der vielen Londoner Fringe-Theater, kleiner freien Theatergruppen, die jenseits des Mainstreams kreative Projekte auf die Bühne bringen. Die Massen erreichen sie nicht, doch Theaterkenner schätzen das schöpferische Potenzial der Gruppen jenseits des Konventionellen, wenn es das im Theater überhaupt noch gibt, und es sind in diesen Kreisen schon einige Talente entdeckt worden.

Um acht beginnt das Schauspiel, und die Wartenden werden von einer freundlichen Dame durch den Hinterhof in den Theaterraum geführt. Nicht viel größer als eine Doppelgarage, umringen an drei Seiten einfache Holzbänke ein Quadrat, das von Scheinwerfern erhellt ist und wohl die Bühne darstellt. Die Wände sind schwarz gefärbt, man befindet sich in einem verschlossenen Ort der Geborgenheit, in dem nur das Theater zählt und nichts stören oder ablenken kann. Zögerlich nehmen die Zuschauer Platz, es sind genau sieben an der Zahl, mehr als dreißig würden hier auch schwerlich hineinpassen. Als der erste Schauspieler die Schaufläche betritt, ist man ergriffen von der Aura des Besonderen: Acht Schauspieler geben ihr Bestes für sieben Zuschauer, welch eine Exklusivität.
Man merkt: Mit Betriebswirtschaft hat das Dargebotene heute Abend nichts zu tun. Für die Darsteller zählt nur die Lust der Schauspielerei selber, denn verdienen können sie an ihrer Performance heute abend nichts.

Umso gefälliger gibt man sich dem Bühnengeschehen hin. Electra steht auf dem Programm, jene Tragödie des Sophokles, in der das Elend im Geschlecht der Tantaliden aus der Sicht der Tochter des von seiner Gattin Klytamnestra ermordeten Agamemnon geschildert wird. Von ihrem Bruder Orest getrennt, von der Mutter gehasst, gibt sich Electra beinahe selber auf und sehnt sich nach dem Tode. Die Heimkehr des Orest gibt Electra schließlich die Erlösung, und in einem verbitterten Akt der Rache ermordet der Bruder die gewissenlose Mutter. Die jungen Schauspieler zeigen eine beeindruckende Leistung, und als am Schluss nur sieben Zuschauer applaudieren, erscheint einem dies kaum angemessen.

Doch genau darin liegt der Unterschied zwischen Fringe und den großen Produktionen, die rund um den Leicester-Square die Massen anziehen, nicht zuletzt mit Hilfe breitgefächerter Werbekampagnen.

Ein etwas größeres Theater, das sich aber nicht in die Reihe Musicalhäuser und die Großinszenierungen einfügt, ist "The Gate" in Notting Hill. Auch hier sitzt sich das Publikum gegenüber, und bei der Aufführung von "Shoot me in the Heart" sind auch Mittwochs alle Plätze besetzt. Das Stück handelt von den Träumen und Sehnsüchtigen einer Kleinwüchsigen, und den ihnen entgegenstehenden Konventionen der Gesellschaft, die der körperlichen Andersartigkeit mit Abneigung bis Verachtung begegnet. Dass die Schauspielerin tatsächlich kleinwüchsig ist, verstärkt die Wirkung des Stücks und macht die bedrückenden Szenen beinahe makaber.
Obwohl die Thematik so ernst ist, schafft es die Inszenierung, das Stück in großen Teilen als Komödie daherkommen zulassen. Besonders die verspielt pantomimische Überspitzung der Figuren, die die brillanten Schauspieler immer wieder zu Höchstleistungen treibt, lässt die Hemmung der Figuren im Umgang mit der Andersartigen als das erscheinen, was es ist: Lächerlich. Und so schafft es das Stück, den Zuschauer zu vergnügen, und ihn gleichzeitig stark zum Nachdenken zu bewegen.

Auf den Straßen von Notting Hill ist das auch wunderbar möglich, denn der Stadtteil hat eine ganz eigene Atmosphäre, die einen zum träumerischen Herumwandeln verleitet. Kleine Läden bieten ihr ganz eigenes Sortiment an Waren, die vielen Pubs wirken schon von außen gemütlich, und die langen Straßen mit den alten, verzierten Häusern, die kleinen Villen gleichen, sind allein einen Spaziergang wert. Und so gerät man ins Schwärmen für eine Stadt, in der es so vieles zu sehen gibt, dass man ein Leben darauf verwenden müsste, sie zu erkunden. Vielleicht, so denkt man, kommt man ja bald noch einmal wieder...

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3.Ausgabe_17.12.2000


Das London des 21. Jahrhunderts entsteht in den Docklands im Osten der Stadt