Spielplan: Globalisierung

...oder: Über die Unfähigkeit der Regisseure

Andreas Menn


Nie waren sie sich einig gewesen, all jene SozioPsychoEthnoÖkonomoPolitoAnthropo- und sämtliche anderen "-Logen", welche auch eben eine solche Loge im Theater des internationalen Kapitalismus besaßen, oder zumindest zu besitzen glaubten, um von dort aus das Geschehen auf der Bühne zu beurteilen, auf der das ewige Theater der Menschheit aufgeführt wurde. Nie hatten sie eine alle gleichermaßen befriedigende These bilden können, wie man das ihnen dargebotene Schauspiel nun zu interpretieren habe, vor allem aber, was man ihm für einen Namen geben solle.

Jahrhundertelang waren auf der Bühne stets verschiedene Gruppen vertreten gewesen, die gegeneinander antraten, und man bezeichnete das ganze dann als Widerstreit zwischen Monarchie und Republik, Demokratie und Diktatur, Kommunismus und Kapitalismus. Nie aber hatte man es geschafft, das ganze widersprüchliche Gewusel unter einem einheitlichen Begriff zusammenzufassen. Der Vorschlag der Kategorie "Totalitarismus" hatte die schärfsten Kontroversen ausgelöst in besagten Logen des Welttheaters, und der Kalte Krieg schaffte auch nur scheinbaren Waffenstillstand, bis dann die Mauer, die die Bühne in zwei Hälften teilte, mit einem Mal einfach wegbrach. Plötzlich war nur noch der Kapitalismus übriggeblieben, und die Darsteller führten von nun an ein Schauspiel kannibalistischer Anarchie auf.

Augenblicklich zerfleischten sich unter den Augen der Zuschauer die Akteure, welche sich jetzt modern global players nannten, in ungewohnter Schärfe und nie gekannter Geschwindigkeit. A und B vereinigten sich zu AB, der nun weit größer war als alle anderen. C briet D von hinten eins über, um ihn dann mit Haut und Haaren, nein: Haus und Harem, also Konzernzentrale und Belegschaft, zu verschlingen. Heraus kam ein Gigant, der viel größer, dabei aber seltsam schlank erschien. Da hatte wohl wieder was von der Belegschaft dran glauben müssen - leichte Übertragungsverluste, ein bißchen Schwund gab's halt immer. Hauptsache war, daß der neue Akteur nach dieser Abmagerungskur jetzt sichtlich fitter daherkam, und das zählte ja bekanntlich alles im internationalen Wettbewerb der globalen Gladiatoren. Man nannte das "Rationalisierung".
Opfer waren dabei nun mal leider eine Notwendigkeit, die waren eben nicht unbedingt zu vermeiden, gehörten auch eigentlich zu einem echten Kampf dazu, da gab's halt immer Gewinner und Verlierer. Survival of the fittest. Oder auch survival of the slyest...

Angesichts dieses Schauspiels waren sich nun die Analytiker in den Logen schneller denn je einig, wie das, was dort unten vorgetragen wurde, denn nun zu bezeichnen sei. Die Tatsachen waren folgende: Erstens handelte es sich bei dem, was dort ablief, um einen Prozeß, der noch längst nicht als abgeschlossen betrachtet werden konnte. Zweitens lief das Ganze nur noch auf einer Bühne ab, die vielen kleinen Nebenbühnen mit ihren eigenen Schauspielern und eigenen Stücken waren vereinigt worden. Die neue Bühne war global. Da drängte sich doch jedem halbwegs denkenden Wesen sofort dieser eine Begriff auf: Globalisierung.

Eine selten praktische Vokabel. Endlich hatte die Fachwelt eine Formel geschaffen, das gleich zwei Vorteile brachte: Erstens konnte man jetzt die kleinen und großen Phänomene aller Handlungsebenen als Symptome einer einzigen Entwicklung erklären und sich damit die vielen kleinen lästigen Fragen des Lebens vom Halse schaffen. Man mußte nicht mehr auf einige Dutzend Bühnen gleichzeitig achten, sondern nur noch auf eine. Alles, was man sich nicht erklären konnte, und alles, was man zu erklären versuchte, war fortan "Globalisierung". Ganz nebenbei hatte man damit - zweitens - zum ersten Mal eine einheitliche Theorie zur kontinentenübergreifenden gesellschaftlichen Entwicklung entworfen, einen Namen für das Schauspiel, den alle akzeptieren konnten.

Aber damit war der Streit noch längst nicht vorbei, nein, die Quälereien begannen hier erst. Ganz neue Fragen wurden in den Logen diskutiert. War das Gemetzel auf der Bühne nun ein Trauerspiel, oder eher eine schwarze Komödie? Sollte man lachen oder das Geschehen doch ernst nehmen? Bildete sich da unten eine neue Katastrophe heraus, oder sollte man auf ein Happy-End warten? War das jetzt Hollywood oder bittere Realität?

Der Gruppe auf der rechten Seite war das ganze Globalisieren eine willkommene Unterhaltung. Endlich war mal wieder richtig was los dort unten, kein moralisches Geplänkel, sondern knallharte Action. Das hübsche an der Sache war aus der Sicht dieser Hälfte, dass man im Grunde nur gewinnen konnten, weil jeder Wetteinsätze auf die stärksten Akteure gesetzt hatte und an jedem Sieg mitverdiente. Für die Besitzer der Wettscheine war das ganze Theater eine Komödie mit persönlichem Happy-End. Und sogar viele von links wanderten nach und nach herüber, als sie die ausgelassene Stimmung in den Logen gegenüber bemerkten, und wetteten mit.

Anderen aber fiel auf, daß es bei diesem Schauspiel auch immer mehr Verlierer gab, denen kaum noch einer mehr Beachtung schenkte. Hilflos mußten diese dem Kampf der global players zusehen, nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Und auch kein anderer half ihnen. Lediglich einigen aufmerksameren Gemütern unter den Zuschauern wurde es langsam ungemütlich in ihren Samtsesseln. Sie hatten erkannt, daß in dem Schauspiel etwas Entscheidendes fehlte. Früher hatte es immer Gut und Böse gegeben, beide bemüht, den jeweiligen Gegner möglichst von den Brettern, die die Welt bedeuteten, herunterzudrängen.
Nun aber gab es diese klassische Zweiteilung nicht mehr. Stattdessen kämpfte dort jeder gegen jeden, eine Art postideologische Anarchie. Die Ökonomie hatte das Ruder übernommen. Die Regie hingegen, die eigentlich das Geschehen auf der Bühne lenken sollte - sie nannte sich Politik - schien eine ausgedehnte Kaffeepause zu machen. Keiner griff mehr ein, und die Handlung glitt aus dem Ruder.

Da ertönten Rufe aus dem Zuschauerraum, die da sagten, die Regie solle mal endlich wieder eingreifen, intervenieren, sonst gäbe es ein Unglück, und das Theater sei endgültig vorbei. Vor allem sorgte man sich um einen Grundsatz, der bisher für das Geschehen auf der Bühne galt: Gerechtigkeit. Chancengleichheit solle herrschen, und nicht der Stärkere den Schwächeren ungestraft unterbuttern. Das sei nicht mehr mit der Würde des Menschen zu vereinbaren. "Greift ein", schrie einer von links hinten, "sonst gibt es da unten eine Rebellion!"

Doch auch hinter dem Vorhang war man sich nicht einig. Die meisten Regisseure des Theaters waren bemüht, sich selbst in die günstigste Position zu manövrieren und den meisten Einfluß zu gewinnen. Der Kampf jeder gegen jeden hatte auch die Politiker erfaßt. Andere ließen sich derweil vergnügt von den Abgesandten der Akteure auf der Bühne reichlich Kaffee und Kuchen servieren, unterderhand natürlich, und versprachen insgeheim, dafür nicht mehr in das Schauspiel eingreifen zu wollen.

Da endlich wurden die Warnrufe aus dem Publikum lauter, die Kritiken miserabler, die Urteile immer schärfer. Das ganze Schauspiel sei "unmoralisch und sittenwidrig", sagte man. "Geschmacklos und gefährlich", befand ein anderer. "Raubtierkapitalismus", rief einer in den Raum.
Sprechchöre entstanden, in denen man die Regie zum Eingriff aufforderte. "Grenzen setzen, Grenzen setzen!!!" Die Regisseure aber schienen zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um die Aufforderungen zu registrieren. Vielleicht waren sie auch einfach zu dumm, sie zu verstehen. Oder zu faul, einmal über neue Konzepte nachzudenken. Und offensichtlich auch schon zu machtlos, als daß sie noch den Schauspieler auf der Bühne Instruktionen geben konnten. Die global players waren international und mächtig geworden, die Regie aber blieb klein und zersplittert. Wie sollte sie da noch zu einem einheitlichen Konzept gelangen? Unter diesen Umständen war das schwer möglich.

"Politiker aller Länder, vereinigt Euch!", rief das Publikum. Aber die Regisseure hörten nicht...

   


3.Ausgabe_17.12.2000