Für Fortschritt über Leichen gehen?
Heraklits Philosophie vom Krieg als "Vater aller Dinge" erlangte in der Geschichte und bis heute zweifelhaften Nutzwert
Andreas Menn
Kaum ein Zitat hat den Herrschern und Despoten dieser Erde mehr Rechtfertigungssubstanz geboten als jenes eine: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge."
Dieser Satz läßt nicht nur den Pazifisten im Rückblick auf zwei Jahrtausende der Kämpfe und Zerstörung an der Weisheit des griechischen Philosophen zweifeln. Konnte er sich nicht denken, wohin das Gesagte führen mußte?
Das Problem der Theorie ist, daß sie immer genau dann in die Praxis übertragen werden kann, wenn sie nicht dafür vorgesehen ist. Im Laufe der Jahrhunderte wird Heraklits Beobachtung umgeformt zum konkreten Leitfaden für Diktatoren. Machiavelli fordert den "principe", der im Notfall zum Tier wird und den Krieg als Normalität und Pflicht betrachtet. Hegel schließt sich an und spricht von der "Schädlichkeit des Friedens und Notwendigkeit des Krieges."
Frieden als Stillstand, Krieg als Bewegung. Frieden als Tod, Krieg als Leben. Selten kann man einer derart dramatischen Verdrehung der Logik begegnen. Hegels Philosophie rechtfertigt den Tod, um Tod zu vermeiden. Gibt es etwas Abstruseres?
Gibt es. Noch abstruser ist die Verwirklichung dieses Gedankens. Und da gab es viele Fälle im Laufe der Geschichte. Friedrich dem Großen gelang es, den Angriffskrieg als gerecht darzustellen. Und daraufhin prompt einige zu führen. Kaum jemand verband die Theorie so effizient mit der Praxis.
Außer Hitler. Er sah den Krieg als Bedingung für das Überleben ganzer Völker. "Zum Wohle des deutschen Volkes müssen wir alle 15 bis 20 Jahre nach Krieg streben." Krieg als Katharsis, als Reinigung und Wiederbelebung.
Noch heute loben Stimmen die Fortschritte, die uns der Krieg geliefert habe. Wie sähe heute unsere Luftfahrtindustrie aus, wenn nicht der Erste Weltkrieg gewesen wäre, der unsere Luftfahrttechnik revolutionär voran gebracht hatte? Ohne den Zweiten Weltkrieg hätten wir womöglich heute noch keine Radarsysteme. Wie hätten wir uns zu dem entwickeln können, was wir heute sind - eine hochtechnische, fortschrittliche Industriegesellschaft? Was uns allein der Kalte Krieg eingebracht hat! Ohne ihn gäbe es keine Weltraumtechnik, keine Satelliten, und erst recht keine Solarzellen.
Oh natürlich, jetzt begreifen wir, was wir bislang in naiver Verblendung verleugneten: Der Krieg ist unverzichtbar!
Und mal ehrlich: Ohne Kriege wäre unsere Welt doch geradezu todlangweilig. Erst der Krieg bringt Leben in die Bude! Und davon wollen wir alle auch unbedingt etwas mit-kriegen.
Spannend, diese Bilder aus dem Golfkrieg, erbauend, mit einer Rakete mitzufliegen und dem Ziel rasend schnell näher zu kommen.
Welchem Ziel eigentlich? - Die Bombardierung. Wer gehört dazu? Die Bombenden natürlich.
Aber da war doch noch irgend jemand...
- Ach so, die Bombardierten! Die Geschundenen. Die Leidenden. Die Sterbenden. Die Blutenden. Hätten wir ja beinahe vergessen.
Die Folgen des Krieges sind Elend und Leid. Der Krieg ist der Vater des Todes. Krieg ist der Vater der Zerstörung. Der Krieg ist auch der Vater der Kinder vergewaltigter Frauen.
Allein diese Erkenntnis bringt uns die Erleuchtung, was der mißverstandene und mißbrauchte Philosoph Heraklit wirklich meinte:
Der Krieg ist der Vater aller Dinge!
 
 
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