Von den Grenzen des guten Geschmacks

Dass Kartoffelsalat nicht unbedingt immer sehr bekömmlich ist, erfuhr schmerzhaft

Andreas Menn


Meine Schullaufbahn war des öfteren von Momenten der Übelkeit gekrönt.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie uns in der Schule unser Französisch-Lehrer im Unterricht unvermittelt auftrug, Teller und Gabeln aus dem Lehrerzimmer zu entleihen, es gebe was zu futtern. Da die Französisch-Stunden meistens zu den geringfügiger geschätzten Einträgen im Stundenplan gehörten, war die Freude über die angekündigte Abwechslung nicht unbedingt karg. Im Gegenteil, man sprang umher und vergaß blitzesschnelle auch die letzten mühsam bis schludrig gepaukten Vokabeln, um den nun als überflüssig empfunden geistigen Ballast gänzlich abzuwerfen.

Leckeren Kuchen, Pizza und Steinpilzcremesuppe erwartend, mussten wir schon irgendwie die Enttäuschung verbergen, als uns der Lehrer dann einen den Wandfarbenbehältern aus dem Baumarkt erschreckend stark ähnelnden Kumpen Kartoffelsalat auftischte mit den Worten: „Der muss weg!“ Das Zeug war vom Hausmeister fürs letzte Sommerfest beim Handelshof erstanden worden, und mittlerweile war Oktober, und es musste wirklich „weg“. Einige weigerten sich, fahnenscheinende Argumente darbringend („ich muss gleich noch zum Zahnarzt“), am Resteessen teilzunehmen, doch ich gehörte zu denjenigen, die aus unerforschlichen Beweggründen heraus nicht imstande waren, in den Chor der Ablehnung einzustimmen. Es war wohl weniger eine Demutshaltung dem freigiebigen Lehrer gegenüber als vielmehr das bei Schülern arttypische Kalkül: „Besser Essen als Vokabelabfragen“, welches mich am Eingreifen hinderte, als die nachlässige Hand des Lehrers über meinen Teller herstreifte und aus einer Kelle eine Masse danieder platschen ließ, die mich das Erschaudern lehrte.

Ich habe tatsächlich schon besseren Kartoffelsalat gesehen, und der Umstand allein, dass ein solcher in einem Behälter für Wandfarben ausgeliefert wird, rechtfertigt noch lange nicht, dass er auch so aussieht wie Wandfarbe.

Dies war bei dem Kartoffelsalat in jener Schulstunde leider so ziemlich genau der Fall, obwohl die Adjektive „verklumpt“, „matschig“ und „verkrustet“ das Übel noch prägnanter beschreiben würden.

Kartoffelsalat wird ja, wie man aus Erfahrung oder dem Fernsehen nun sicherlich weiß, mit Majonäse angerührt, um ihn geschmeidiger zu machen. Man kann sich das auch leicht merken mit dem Spruch: Was dem Mörtel der Zement, ist dem Kartoffelsalat die Majonäse. Dass dies kein hinkender Vergleich war, sondern in diesem Fall der treffendste, musste ich bei der ersten schüchternen Kostprobe leider in lebhaftester Weise in Erfahrung bringen. Der Schlamm schmeckte schlicht nach gar nichts, das Ekelerregende war die Konsistenz.

Majonäse wie Zement haben an sich ja beide die vergleichbare Funktion des Bindemittels. Damit sich Wasser und organische Subtanz nicht voneinander trennen und topfinternen Separatismus betreiben, vermittelt die Majonäse und schafft Zusammenhalt, so dass das Ganze auch nach Tagen ein einheitliches Aussehen beibehält. Die Masse muss so richtig schön zusammenpappen. Daher kommt wahrscheinlich auch der Ausdruck: Ich bin pappsatt.

Die Majonäse besagten Kartoffelsalates war ihres Amtes nicht mehr fähig. Wasser, Kartoffeln, Restbrei und Majonäse suppten in einer Parallelexistenz trübe nebeneinander her – ein eindeutiger Fall von Emulgatorversagen. Die Tiefkühltruhe hatte zusätzlich noch dafür gesorgt, dass sich das Wasser zu kleinen Eisklümpchen formte, die das kulinarische Elend komplettierten. Als ich, optisch bereits vorgewarnt, nun zögerlich in den Mansch hineinbiss, knirschte es erbärmlich, und es durchzuckte mich ein alleiniger Gedanke: So muss es sein, wenn im späten Frühling in Sibirien die Tundra schmilzt.

Den Menschen ist es bekanntlich kulturübergreifend weniger gesittet, schmelzenden Tundramorast zu vertilgen. Deshalb konnte ich nicht begreifen, warum man gerade im Französisch-Unterricht der Sekundarstufe I damit beginnen sollte. Aber irgendwelche wirren Moralvorstellungen sagten mir damals, ich habe Kartoffelsalat essen wollen, nun müsse ich meiner Ankündigung auch Folge leisten.

Formlos klebte der Schlick auf meinem Teller, doch ich aß das Zeug, bis nur noch ein kleiner Rest übrig blieb. So weit können verquere Moralvorstellungen und irre Prinzipientreue führen!

Die Quittung für diesen masochistischen Alltagskretinismus erhielt ich wenige Stunden später, als ich kotzend überm Klo hing. Diese Stellung nahm ich dann über die nächsten fünf Stunden weitestgehend ein, und ich war mir sicher, dass mir niemals in meinem nicht unbedingt von Kotzereignissen unterfrequentierten Leben dermaßen übel war. Es gibt sehr viele angenehme und reizvolle Dinge im Leben, dazu zähle ich aber ausdrücklich nicht den Brechreiz.

Der Kartoffelsalat sah in der Kloschüssel keinen Deut schlechter aus als auf dem Teller, das Kunststück wäre sicher selbst den von Krebsgeschwüren durchsiebten Mägen eines Wiederkäuers nicht gelungen. Schlamm bleibt Schlamm.

Als ich am nächsten Tag – noch immer totenbleich - in die Schule kam, hielten mich meine Mitschüler beinahe für Michael Jackson. Ich konnte auch andere Verwechslungen mit Zombies, Lenin und anämischen Drogentoten bald richtig stellen.

Meinen Französisch-Lehrer aber informierte ich in einem nicht völlig von Vorwürfen bereinigten Tonfall, wie und wo ich den letzten Nachmittag verbracht hatte. Der Mann war zwar lange schon für seinen trockenen, sagen wir „eigenwilligen“ Humor bekannt, doch als ich die Antwort auf meine umfassenden Beschreibungen bezüglich Kotzen hörte, verschlug es mir für die nächsten dreißig Minuten glatt die Sprache. Er sagte schlicht:

„Und, hat’s Spaß gemacht?“    


3.Ausgabe_17.12.2000