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Joschka Fischer: "Vom
Staatenverbund zur Föderation "
"Gedanken über die Finalität der
europäischen Integration"
Rede am 12. Mai 2000 in der
Humboldt-Universität in Berlin
Fast auf den Tag vor 50 Jahren stellte Robert Schuman seine Vision
einer "Europäischen Föderation" zur Bewahrung des Friedens vor. Hiermit
begann eine völlig neue Ära in der europäischen Geschichte. Die
europäische Integration war die Antwort auf Jahrhunderte eines prekären
Gleichgewichts der Mächte auf diesem Kontinent, das immer wieder in
verheerende Hegemonialkriege umschlug, die in den beiden Weltkriegen
zwischen 1914 und 1945 kulminierten. Der Kern des Europagedankens nach
1945 war und ist deshalb die Absage an das Prinzip der balance of power,
des europäischen Gleichgewichtssystems und des Hegemonialstrebens
einzelner Staaten, wie es nach dem Westfälischen Frieden von 1648
entstanden war, durch eine enge Verflechtung ihrer vitalen Interessen und
die Übertragung nationalstaatlicher Souveränitätsrechte an supranationale
europäische Institutionen.
Ein halbes Jahrhundert später ist Europa, der europäische
Einigungsprozess für alle beteiligten Staaten und Völker die wohl
wichtigste politische Herausforderung, da sein Erfolg oder Scheitern oder
auch nur die Stagnation dieses Einigungsprozesses für die Zukunft von uns
allen, vor allem aber für die Zukunft der jungen Generation von
überragender Bedeutung sein wird. Und eben dieser europäische
Einigungsprozess ist gegenwärtig bei vielen Menschen ins Gerede gekommen,
gilt als eine bürokratische Veranstaltung einer seelen- und gesichtslosen
Eurokratie in Brüssel und bestenfalls als langweilig, schlimmstenfalls
aber als gefährlich.
Ich möchte mich gerade deshalb für die Gelegenheit bedanken, heute dazu
öffentlich einige grundsätzlichere und konzeptionelle Überlegungen über
die zukünftige Gestalt Europas entwickeln zu können. Gestatten Sie mir
deshalb auch, für die Dauer dieser Rede, die beim öffentlichen Nachdenken
bisweilen beengende Rolle des deutschen Außenministers und Mitglieds der
Bundesregierung hinter mir zu lassen, auch wenn ich weiß, dass dies nicht
wirklich geht. Aber ich möchte heute eben nicht über die operativen
Herausforderungen der Europapolitik in den nächsten Monaten zu Ihnen
sprechen, nicht also über die laufende Regierungskonferenz, die
Osterweiterung der EU und alle anderen wichtigen Fragen, die wir heute und
morgen zu lösen haben, sondern vielmehr über die möglichen strategischen
Perspektiven der europäischen Integration weit über das nächste Jahrzehnt
und über die Regierungskonferenz hinaus.
Es geht also, wohlgemerkt, nicht um die Position der Bundesregierung,
sondern um einen Beitrag zu einer öffentlich längst begonnen Diskussion um
die "Finalität", um die "Vollendung" der europäischen Integration, und
dies will ich eben als überzeugter Europäer und deutscher Parlamentarier
tun. Um so mehr freue ich mich deshalb, dass beim letzten informellen
Außenministertreffen der EU auf den Azoren, dank der Initiative der
portugiesischen Präsidentschaft, exakt zu diesem Thema der Finalität der
europäischen Integration eine lange, ausführliche und überaus produktive
Diskussion stattgefunden hat, die sicher Konsequenzen zeitigen wird.
Man kann es gegenwärtig fast mit den Händen greifen, dass zehn Jahre
nach dem Ende des Kalten Krieges und mitten im Beginn des Zeitalters der
Globalisierung die europäischen Probleme und Herausforderungen sich zu
einem Knoten geschürzt haben, der innerhalb der bestehenden Vorgaben nur
noch sehr schwer aufzulösen sein wird: Die Einführung der gemeinsamen
Währung, die beginnende Osterweiterung der EU, die Krise der letzten
EU-Kommission, die geringe Akzeptanz von europäischem Parlament und
europäischen Wahlen, die Kriege auf dem Balkan und die Entwicklung einer
gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik definieren nicht nur das
Erreichte, sondern bestimmen auch die zu bewältigenden Herausforderungen.
Quo vadis Europa? fragt uns daher ein weiteres Mal die Geschichte
unseres Kontinents. Und die Antwort der Europäer kann aus vielerlei
Gründen, wenn sie es gut mit sich und ihren Kindern meinen, nur lauten:
Vorwärts bis zur Vollendung der europäischen Integration. Für einen
Rückschritt oder auch nur einen Stillstand und ein Verharren beim
Erreichten würde Europa, würden alle an der EU beteiligten Mitgliedstaaten
und auch alle diejenigen, die Mitglied werden wollen, würden vor allem
also unsere Menschen, einen fatal hohen Preis zu entrichten haben. Und
dies gilt ganz besonders für Deutschland und die Deutschen.
Was vor uns liegt, wird alles andere als einfach werden und unsere
ganze Kraft erfordern, denn wir werden in der nächsten Dekade die Ost- und
Südosterweiterung der EU zu wesentlichen Teilen zuwege bringen müssen, die
letztlich zu einer faktischen Verdoppelung der Mitgliederzahl führen wird.
Und gleichzeitig, um diese historische Herausforderung bewältigen und die
neuen Mitgliedstaaten integrieren zu können, ohne dabei die
Handlungsfähigkeit der EU substantiell infrage zu stellen, müssen wir den
letzten Baustein in das Gebäude der europäischen Integration einfügen,
nämlich die politische Integration.
Die Notwendigkeit, diese beiden Prozesse parallel zu organisieren, ist
die wohl größte Herausforderung, vor der die Union seit ihrer Gründung
jemals gestanden hat. Aber keine Generation kann sich ihre historischen
Herausforderungen aussuchen, und so ist es auch diesmal. Nichts Geringeres
als das Ende des Kalten Krieges und der erzwungenen Teilung Europas stellt
die EU und damit auch uns vor diese Aufgabe, und deshalb bedarf es auch
heute einer ähnlich visionären Kraft und pragmatischen
Durchsetzungsfähigkeit, wie sie Jean Monnet und Robert Schuman nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs bewiesen haben. Und wie damals, nach dem Ende
dieses letzten großen europäischen Krieges, der wie fast immer auch ein
deutsch-französischer Krieg gewesen war, wird es bei diesem letzen
Bauabschnitt der Europäischen Union, nämlich ihrer Osterweiterung und der
Vollendung der politischen Integration, ganz entscheidend auf Frankreich
und Deutschland ankommen.
Meine Damen und Herren,
zwei historische Entscheidungen haben das Schicksal Europas zur Mitte
des letzten Jahrhunderts grundsätzlich zum Besseren gewendet: Erstens, die
Entscheidung der USA, in Europa zu bleiben. Und zweitens, das Setzen von
Frankreich und Deutschland auf das Prinzip der Integration, beginnend mit
der wirtschaftlichen Verflechtung.
Mit der Idee der europäischen Integration und mit ihrer Umsetzung
entstand nicht nur eine völlig neue Ordnung in Europa, genauer: in
Westeuropa, sondern die europäische Geschichte kehrte sich in ihrem
Verlauf fundamental um. Vergleichen Sie einmal die europäische Geschichte
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dessen zweiten fünf
Jahrzehnten, und Sie werden sofort verstehen, was ich meine. Gerade die
deutsche Perspektive ist dabei besonders lehrreich, denn sie macht klar,
was unser Land der Idee der europäischen Integration und ihrer Umsetzung
tatsächlich zu verdanken hat!
Dieses fast revolutionär zu nennende neue Prinzip des europäischen
Staatensystems ging von Frankreich und seinen großen Staatsmännern Robert
Schuman und Jean Monnet aus. Seine schrittweise Verwirklichung von der
Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis zur
Schaffung des Binnenmarkts und der gemeinsamen Währung beruhte in allen
Stadien seiner Entwicklung zentral auf der deutsch-französischen
Interessenallianz. Diese war allerdings niemals exklusiv, sondern für
andere europäische Staaten immer offen, und so sollte es bis zum Erreichen
der Finalität auch bleiben.
Die europäische Integration hat sich als phänomenal erfolgreich
erwiesen. Das Ganze hatte nur einen entscheidenden Mangel, der durch die
Geschichte erzwungen war. Es war nicht das ganze Europa, sondern
ausschließlich dessen freier Teil im Westen. Die Teilung Europas ging fünf
Jahrzehnte mitten durch Deutschland und Berlin hindurch, und östlich von
Mauer und Stacheldraht wartete ein unverzichtbarer Teil Europas, ohne den
die europäische Integrationsidee niemals vollendet werden konnte, auf
seine Chance zur Teilnahme am europäischen Einigungsprozess. Diese kam
dann mit dem Ende der europäischen und deutschen Teilung 1989/90.
Robert Schuman hat dies bereits 1963 mit äußerster Klarheit gesehen:
"Wir müssen das geeinte Europa nicht nur im Interesse der freien Völker
errichten, sondern auch, um die Völker Osteuropas in diese Gemeinschaft
aufnehmen zu können, wenn sie, von den Zwängen, unter denen sie leiden,
befreit, um ihren Beitritt und unsere moralische Unterstützung nachsuchen
werden. Wir schulden ihnen das Vorbild des einigen, brüderlichen Europa.
Jeder Schritt, den wir auf diesem Wege zurücklegen, wird für sie eine neue
Chance darstellen. Sie brauchen unsere Hilfe bei der Umstellung, die sie
zu bewerkstelligen haben. Unsere Pflicht ist es, bereit zu sein."
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums musste sich die EU nach
Osten öffnen, sonst hätte sich die Idee der europäischen Integration
selbst ausgehöhlt und letztlich zerstört. Warum? Ein Blick nach dem
ehemaligen Jugoslawien zeigt uns die Konsequenzen, auch wenn sie nicht
immer und überall zu ähnlich extremen Entwicklungen geführt hätten. Eine
auf Westeuropa beschränkte EU hätte es dauerhaft mit einem gespaltenen
Staatensystem in Europa zu tun gehabt: in Westeuropa die Integration, in
Osteuropa das alte Gleichgewichtssystem mit seiner anhaltend nationalen
Orientierung, Koalitionszwängen, klassischer Interessenpolitik und der
permanenten Gefahr nationalistischer Ideologien und Konfrontationen. Ein
gespaltenes europäisches Staatensystem ohne überwölbende Ordnung würde
Europa dauerhaft zu einem Kontinent der Unsicherheit machen, und auf
mittlere Sicht würden sich diese traditionellen Konfliktlinien von
Osteuropa auch wieder in die EU hinein übertragen. Gerade Deutschland wäre
dabei der große Verlierer. Auch die geopolitischen Realitäten ließen nach
1989 keine ernsthafte Alternative zur Osterweiterung der europäischen
Institutionen zu, und dies gilt erst recht im Zeitalter der
Globalisierung.
Die EU hat als Antwort auf diesen wahrhaft historischen Einschnitt
konsequent einen tiefgreifenden Umgestaltungsprozess eingeleitet:
- In Maastricht wurde von den drei wesentlichen Souveränitäten des
modernen Nationalstaats – Währung, innere und äußere Sicherheit – erstmals
ein Kernbereich ausschließlich in die Verantwortung einer europäischen
Institution übertragen. Die Einführung des Euro bedeutete nicht nur die
Krönung der wirtschaftlichen Integration, sie war zugleich ein zutiefst
politischer Akt, denn die Währung ist nicht nur eine ökonomische Größe,
sondern sie symbolisiert auch die Macht des Souveräns, der sie garantiert.
Aus der Vergemeinschaftung von Wirtschaft und Währung gegenüber den noch
fehlenden politischen und demokratischen Strukturen ist ein Spannungsfeld
entstanden, das in der EU zu inneren Krisen führen kann, wenn wir nicht
die Defizite im Bereich der politischen Integration produktiv aufheben und
so den Prozess der Integration vollenden.
- Der Europäische Rat in Tampere markierte den Einstieg in ein neues
weitreichendes Integrationsprojekt, den Aufbau eines gemeinsamen Raums des
Rechts und der inneren Sicherheit. Damit rückt das Europa der Bürger in
greifbare Nähe. Die Bedeutung dieses neuen Integrationsprojekts geht aber
noch darüber hinaus: Gemeinsames Recht kann eine große integrative Kraft
entfalten.
- Die europäischen Staaten haben, gerade unter dem Eindruck des
Kosovokrieges, weitere Schritte zur Stärkung ihrer gemeinsamen
außenpolitischen Handlungsfähigkeit ergriffen und sich in Köln und
Helsinki auf ein neues Ziel verständigt: die Entwicklung einer gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Union hat damit – nach dem Euro
– den nächsten Schritt getan. Denn wie sollte man auf Dauer begründen,
dass Staaten, die sich durch die Währungsunion unauflösbar und in ihrer
ökonomisch-politischen Existenz miteinander verbinden, sich nicht auch
gemeinsam äußeren Bedrohungen stellen und ihre Sicherheit gemeinsam
gewährleisten?
- Ebenfalls in Helsinki wurde ein konkreter Plan für die Erweiterung
der EU vereinbart. Nach diesen Beschlüssen dürften die äußeren Grenzen der
künftigen EU mehr oder weniger vorgezeichnet sein. Es ist absehbar, dass
die Europäische Union am Ende des Erweiterungsprozesses 27, 30 oder noch
mehr Mitglieder zählen wird, beinahe so viel wie die KSZE bei ihrer
Gründung.
Wir stehen damit in Europa gegenwärtig vor der enorm schwierigen
Aufgabe, zwei Großprojekte parallel zu organisieren:
1. Die schnellstmögliche Erweiterung. Diese wirft schwierige
Anpassungsprobleme für Beitrittsländer wie für die EU selbst auf. Sie löst
zudem bei unseren Bürgern Sorgen und Ängste aus: Geraten ihre
Arbeitsplätze in Gefahr? Wird durch die Erweiterung Europa noch
undurchsichtiger und unverstehbarer für die Bürger? So ernsthaft wir uns
mit solchen Fragen auseinandersetzen müssen, wir dürfen darüber nie die
historische Dimension der Osterweiterung aus den Augen verlieren. Denn
diese ist eine einmalige Chance, unseren über Jahrhunderte
kriegsgeschüttelten Kontinent in Frieden, Sicherheit, Demokratie und
Wohlstand zu vereinen.
Die Erweiterung liegt gerade für Deutschland im obersten nationalen
Interesse. Die in Deutschlands Dimension und Mittellage objektiv
angelegten Risiken und Versuchungen werden durch die Erweiterung bei
gleichzeitiger Vertiefung der EU dauerhaft überwunden werden können. Hinzu
kommt: die Erweiterung – siehe die Süderweiterung der EU – ist ein
gesamteuropäisches Wachstumsprogramm. Gerade die deutsche Wirtschaft wird
von der Erweiterung einen hohen Gewinn für Unternehmen und Beschäftigung
davontragen. Deutschland muss daher weiter Anwalt einer zügigen
Osterweiterung bleiben. Zugleich muss die Erweiterung sorgfältig und nach
Maßgabe des Beschlusses von Helsinki vollzogen werden.
2. Die Handlungsfähigkeit Europas. Die Institutionen der EU wurden für
6 Mitgliedstaaten geschaffen. Sie funktionieren mit Mühe noch zu 15. So
wichtig der erste Reformschritt mit seiner verstärkten
Mehrheitsentscheidung bei der vor uns liegenden Regierungskonferenz auch
für den Beginn der Erweiterung ist, so wird er langfristig für die
Erweiterung insgesamt allein nicht ausreichen. Die Gefahr besteht dann,
dass eine Erweiterung auf 27 – 30 Mitglieder die Absorptionsfähigkeit der
EU mit ihren alten Institutionen und Mechanismen überfordern wird, und
dass es zu schweren Krisen kommen kann. Aber diese Gefahr spricht,
wohlgemerkt, nicht gegen die schnellstmögliche Erweiterung, sondern
vielmehr für eine entschlossene und angemessene Reform der Institutionen,
damit die Handlungsfähigkeit auch unter den Bedingungen der Erweiterung
erhalten bleibt. Erosion oder Integration lautet deshalb die Konsequenz
aus der unabweisbaren Erweiterung der EU.
Meine Damen und Herren,
die Bewältigung dieser zwei Aufgaben steht im Zentrum der aktuellen
Regierungskonferenz. Die EU hat sich verpflichtet, bis zum 1.1. 2003
aufnahmefähig zu sein. Nach dem Abschluss der Agenda 2000 geht es nun
darum, die institutionellen Voraussetzungen für die nächste
Erweiterungsrunde herzustellen. Die Lösung der drei Kernfragen –
Zusammensetzung der Kommission, Stimmgewichtung im Rat und ganz besonders
der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen – ist unverzichtbar für eine
reibungslose Fortsetzung des Erweiterungsprozesses. Ihr kommt deshalb
jetzt als nächster zu lösender praktischer Schritt unbedingte Priorität
zu.
So zentral die Regierungskonferenz für die Zukunft der EU als nächster
Schritt auch immer ist, so müssen wir angesichts der Lage Europas
gleichwohl schon heute damit beginnen, uns über den Prozess der
Erweiterung hinaus Gedanken zu machen, wie eine künftige "große" EU einmal
funktionieren kann, wie sie deshalb aussehen und funktionieren müsste. Und
das will ich jetzt tun.
Gestatten Sie mir deshalb, meine Damen und Herren, dass ich jetzt "den
Außenminister" definitiv weit hinter mir lasse, um einige Überlegungen
sowohl über das Wesen der sogenannten "Finalität Europas" anzustellen als
auch darüber, auf welchem Weg wir uns diesem Ziel annähern und es
schließlich erreichen können. Und auch allen Euroskeptikern diesseits und
jenseits des Kanals sei empfohlen, jetzt nicht gleich wieder die dicksten
Schlagzeilen zu produzieren, denn erstens handelt es sich um eine
persönliche Zukunftsvision von der Lösung der europäischen Probleme. Und
zweitens reden wir hier über einen langfristigen Zeitraum, weit jenseits
der laufenden Regierungskonferenz. Niemand muss sich also vor diesen
Thesen fürchten.
Die Erweiterung wird eine grundlegende Reform der europäischen
Institutionen unverzichtbar machen. Wie stellt man sich eigentlich einen
Europäischen Rat mit dreißig Staats- und Regierungschefs vor? Dreißig
Präsidentschaften? Wie lange werden Ratssitzungen dann eigentlich dauern?
Tage oder gar Wochen? Wie soll man in dem heutigen Institutionengefüge der
EU zu Dreißig Interessen ausgleichen, Beschlüsse fassen und dann noch
handeln? Wie will man verhindern, dass die EU damit endgültig
intransparent, die Kompromisse immer unfasslicher und merkwürdiger werden,
und die Akzeptanz der EU bei den Unionsbürgern schließlich weit unter den
Gefrierpunkt sinken wird?
Fragen über Fragen, auf die es allerdings eine ganz einfache Antwort
gibt: den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen
Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation, die Robert Schuman
bereits vor 50 Jahren gefordert hat. Und d.h. nichts geringeres als ein
europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die
gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben.
Diese Föderation wird sich auf einen Verfassungsvertrag zu gründen haben.
Mir ist wohl bewusst, welche Prozedur- und Substanzprobleme es bis zur
Erreichung dieses Ziels zu überwinden gilt. Es ist aber für mich völlig
klar, dass Europa seine ihm gemäße Rolle im wirtschaftlichen und
politischen globalen Wettbewerb nur dann wird spielen können, wenn wir
mutig vorangehen. Mit den Ängsten und Rezepten des 19. und 20.
Jahrhunderts können die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht gelöst werden.
Freilich erhebt sich gegen diese einfache Lösung sofort der Vorwurf der
nicht vorhandenen Machbarkeit. Europa a sei kein neuer Kontinent, sondern
voll mit unterschiedlichen Völkern, Kulturen, Sprachen und Geschichten.
Die Nationalstaaten seien nicht wegzudenkende Realitäten, und je mehr die
Globalisierung und Europäisierung bürgerferne Superstrukturen und anonyme
Akteure schaffen, umso mehr werden die Menschen an ihren Sicherheit und
Geborgenheit vermittelnden Nationalstaaten festhalten.
Nun, alle diese Einwände teile ich, denn sie sind richtig. Deshalb wäre
es ein nicht wieder gut zu machender Konstruktionsfehler, wenn man die
Vollendung der politischen Integration gegen die vorhandenen nationalen
Institutionen und Traditionen und nicht unter deren Einbeziehung versuchen
würde. Ein solches Unternehmen müsste unter den historisch-kulturellen
Bedingungen Europas scheitern. Nur wenn die europäische Integration die
Nationalstaaten in eine solche Föderation mitnimmt, wenn deren
Institutionen nicht entwertet oder gar verschwinden werden, wird ein
solches Projekt trotz aller gewaltigen Schwierigkeiten machbar sein.
Anders gesagt: die bisherige Vorstellung eines europäischen Bundesstaates,
der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten und ihre Demokratien
ablöst, erweist sich als ein synthetisches Konstrukt jenseits der
gewachsenen europäischen Realitäten. Die Vollendung der europäischen
Integration lässt sich erfolgreich nur denken, wenn dies auf der Grundlage
einer Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat geschieht. Genau
dieses Faktum aber steckt hinter dem Begriff der "Subsidiarität", der
gegenwärtig allenthalben diskutiert und von kaum jemandem verstanden wird.
Was hat man sich nun unter dem Begriff der "Souveränitätsteilung"
vorzustellen? Wie gesagt, Europa wird nicht in einem leeren politischen
Raum entstehen, und ein weiteres Faktum unserer europäischen Realität sind
deshalb die unterschiedlichen politischen Nationalkulturen und deren
demokratische Öffentlichkeiten, getrennt zudem noch durch die allfälligen
Sprachgrenzen. Ein europäisches Parlament muss deswegen immer ein
Doppeltes repräsentieren: ein Europa der Nationalstaaten und ein Europa
der Bürger. Dies wird sich nur machen lassen, wenn dieses europäische
Parlament die unterschiedlichen nationalen politischen Eliten und dann
auch die unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten tatsächlich
zusammenführt.
Dies lässt sich meines Erachtens erreichen, wenn dieses europäische
Parlament über zwei Kammern verfügt, wobei eine Kammer durch gewählte
Abgeordnete besetzt wird, die zugleich Mitglieder der Nationalparlamente
sind. So wird es keinen Gegensatz zwischen nationalen Parlamenten und
europäischem Parlament, zwischen Nationalstaat und Europa geben. Bei der
zweiten Kammer wird man sich zwischen einem Senatsmodell mit
direktgewählten Senatoren der Mitgliedsstaaten oder einer Staatenkammer
analog unseres Bundesrates zu entscheiden haben. In den USA wählen alle
Staaten zwei Senatoren, in unserem Bundesrat hingegen gibt es eine
unterschiedliche Stimmenzahl.
Ebenso stellen sich für die europäische Exekutive, die europäische
Regierung, zwei Optionen. Entweder entscheidet man sich für die
Fortentwicklung des Europäischen Rats zu einer europäischen Regierung,
d.h. die europäische Regierung wird aus den nationalen Regierungen heraus
gebildet, oder man geht, ausgehend von der heutigen Kommissionsstruktur,
zur Direktwahl eines Präsidenten mit weitgehenden exekutiven Befugnissen
über. Man kann sich hier aber auch verschiedene Zwischenformen dazu
denken.
Nun wird es den Einwand geben, dass Europa ja bereits heute viel zu
kompliziert und für die Unionsbürger viel zu undurchschaubar geworden sei,
und nun wolle man es noch komplizierter machen. Aber genau das Gegenteil
wird hier intendiert. Die Souveränitätsteilung von Föderation und
Nationalstaaten setzt einen Verfassungsvertrag voraus, der festlegt, was
europäisch und was weiterhin national geregelt werden soll. Die Vielzahl
von Regelungen auf EU-Ebene sind mit das Ergebnis der induktiven
Vergemeinschaftung nach der Methode Monnet und Ausdruck
zwischenstaatlicher Kompromisse im heutigen Staatenverbund EU. Die klare
Zuständigkeitsregelung zwischen Föderation und Nationalstaaten in einem
europäischen Verfassungsvertrag sollte die Kernsouveränitäten und nur das
unbedingt notwendig europäisch zu Regelnde der Föderation übertragen, der
Rest aber bliebe nationalstaatliche Regelungskompetenz. Dies wäre eine
schlanke und zugleich handlungsfähige Europäische Föderation, voll
souverän und doch auf selbstbewussten Nationalstaaten als Glieder dieser
Föderation beruhend. Zudem wäre dies auch eine Föderation, die von den
Bürgern durchschaut und verstanden würde, weil sie ihr Demokratiedefizit
überwunden hätte.
Dies alles wird aber nicht die Abschaffung des Nationalstaates
bedeuten. Denn auch für das finale Föderationssubjekt wird der
Nationalstaat mit seinen kulturellen und demokratischen Traditionen
unersetzlich sein, um eine von den Menschen in vollem Umfang akzeptierte
Bürger- und Staatenunion zu legitimieren. Dies sage ich gerade mit Blick
auf unsere Freunde in Großbritannien, denn ich weiß, dass der Begriff
"Föderation" für viele Briten ein Reizwort ist. Aber mir fällt bis heute
kein anderer Begriff ein. Es soll hier niemand gereizt werden.
Auch in der europäischen Finalität werden wir also noch Briten und
Deutsche, Franzosen und Polen sein. Die Nationalstaaten werden
fortexistieren und auf europäischer Ebene eine wesentlich stärkere Rolle
behalten als dies die Bundesländer in Deutschland tun. Und das Prinzip der
Subsidiarität wird in einer solchen Föderation künftig Verfassungsrang
haben.
Diese drei Reformen: die Lösung des Demokratieproblems sowie das
Erfordernis einer grundlegenden Neuordnung der Kompetenzen sowohl
horizontal, d.h. zwischen den europäischen Institutionen, als auch
vertikal, also zwischen Europa, Nationalstaat und Regionen, wird nur durch
eine konstitutionelle Neugründung Europas gelingen können, also durch die
Realisierung des Projekts einer europäischen Verfassung, deren Kern die
Verankerung der Grund-, Menschen- und Bürgerrechte, einer
gleichgewichtigen Gewaltenteilung zwischen den europäischen Institutionen
und einer präzisen Abgrenzung zwischen der europäischen und der
nationalstaatlichen Ebene sein muss. Die Hauptachse einer solchen
europäischen Verfassung wird dabei das Verhältnis zwischen Föderation und
Nationalstaat bilden. Damit ich nicht missverstanden werde: Dies hat mit
Renationalisierung überhaupt nichts zu tun, im Gegenteil.
Meine Damen und Herren,
die Frage, die sich nun immer drängender stellt, ist folgende: wird
sich diese Vision einer Föderation nach der bisherigen Methode der
Integration realisieren lassen oder muss diese Methode selbst, das
zentrale Element des bisherigen Einigungsprozesses, in Frage gestellt
werden?
Bis in der Vergangenheit dominierte im wesentlichen die "Methode
Monnet" mit ihrem Vergemeinschaftungsansatz in europäischen Institutionen
und Politiken den europäischen Einigungsprozess. Diese schrittweise
Integration ohne Blaupause für den Endzustand war in den 50er Jahren für
die wirtschaftliche Integration einer kleinen Ländergruppe konzipiert
worden. So erfolgreich dieser Ansatz dort war, für die politische
Integration und die Demokratisierung Europas hat er sich als nur bedingt
geeignet erwiesen. Dort, wo ein Voranschreiten aller EU-Mitglieder nicht
möglich war, gingen deshalb Teilgruppen in wechselnden Formationen voraus,
wie in der Wirtschafts- und Währungsunion oder bei Schengen.
Liegt also in einer solchen Differenzierung, einer verstärkten
Zusammenarbeit in Teilbereichen, die Antwort auf die doppelte
Herausforderung von Erweiterung und Vertiefung? Gerade in einer
erweiterten und zwangsläufig auch heterogeneren Union wird eine weitere
Differenzierung unverzichtbar werden. Sie zu erleichtern, ist deshalb auch
ein zentrales Ziel der Regierungskonferenz.
Allerdings wird eine immer stärkere Differenzierung auch neue Probleme
aufwerfen: einen Verlust von europäischer Identität, an innerer Kohärenz
sowie die Gefahr einer inneren Erosion der EU, wenn nämlich neben die
Klammer der Integration immer größere Bereiche intergouvernementaler
Zusammenarbeit treten sollten. Schon heute ist eine wohl innerhalb ihrer
eigenen Logik nicht mehr zu lösende Krise der "Methode Monnet" nicht mehr
zu übersehen.
Jacques Delors sowie Helmut Schmidt und Valéry Giscard dŽEstaing haben
deshalb in jüngster Zeit versucht, auf dieses Dilemma neue Antworten zu
finden. Nach den Vorstellungen von Delors soll eine "Föderation der
Nationalstaaten", bestehend aus den 6 Gründungsländern der Europäischen
Gemeinschaft, einen "Vertrag im Vertrag" schließen, mit dem Ziel einer
tiefgreifenden Reform der europäischen Institutionen. In eine ähnliche
Richtung gehen die Überlegungen von Schmidt und Giscard, die allerdings
anstatt der 6 Gründungsmitglieder von den Euro-11 Staaten als Zentrum
ausgehen. Bereits 1994 hatten Karl Lamers und Wolfgang Schäuble die
Schaffung eines "Kerneuropa" vorgeschlagen, das allerdings einen
entscheidenden Geburtsfehler hatte, nämlich die Vorstellung eines
exklusiven "Kerns", der noch dazu das Gründungsland Italien ausschloss,
anstatt eines für alle offenen Integrationsmagneten.
Wenn angesichts der unabweisbaren Herausforderung der Osterweiterung
die Alternative für die EU tatsächlich Erosion oder Integration heißt und
wenn das Verharren in einem Staatenverbund Stillstand mit all seinen
negativen Folgen bedeuten würde, dann wird, getrieben durch den Druck der
Verhältnisse und der von ihnen ausgelösten Krisen, die EU innerhalb der
nächsten Dekade irgendwann vor der Alternative stehen: Springt eine
Mehrheit der Mitgliedstaaten in die volle Integration und einigt sich auf
einen europäischen Verfassungsvertrag zur Gründung einer Europäischen
Föderation? Oder, wenn dies nicht geschieht, wird eine kleinere Gruppe von
Mitgliedstaaten als Avantgarde diesen Weg vorausgehen, d.h. ein
Gravitationszentrum aus einigen Staaten bilden, die aus tiefer
europäischer Überzeugung heraus bereit und in der Lage sind, mit der
politischen Integration voranzuschreiten? Die Fragen würden dann nur noch
heißen: Wann wird der richtige Zeitpunkt sein? Wer wird teilnehmen? Und
wird sich dieses Gravitationszentrum innerhalb oder außerhalb der Verträge
herausbilden? Eines jedenfalls ist dabei sicher: ohne engste
deutsch-französische Zusammenarbeit wird auch künftig kein europäisches
Projekt gelingen.
Angesichts dieser Lage könnte man sich also weit über das nächste
Jahrzehnt hinaus die weitere Entwicklung Europas in zwei oder drei Stufen
vorstellen:
Zunächst dem Ausbau verstärkter Zusammenarbeit zwischen denjenigen
Staaten, die enger als andere kooperieren wollen, wie dies bereits auch in
der Wirtschafts- und Währungsunion und bei Schengen der Fall ist. Auf
vielen Gebieten können wir hiermit vorankommen: bei der Weiterentwicklung
der Euro-11 zu einer wirtschaftspolitischen Union, beim Umweltschutz, der
Verbrechensbekämpfung, der Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungs-
und Asylpolitik und natürlich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Sehr wichtig dabei ist, dass verstärkte Zusammenarbeit nicht als eine
Abkehr von der Integration verstanden werden darf.
Ein möglicher Zwischenschritt hin zur Vollendung der politischen Union
könnte dann später die Bildung eines Gravitationszentrums sein. Eine
solche Staatengruppe würde einen neuen europäischen Grundvertrag
schließen, den Nukleus einer Verfassung der Föderation. Und auf der Basis
dieses Grundvertrages würde sie sich eigene Institutionen geben, eine
Regierung, die innerhalb der EU in möglichst vielen Fragen für die
Mitglieder der Gruppe mit einer Stimme sprechen sollte, ein starkes
Parlament, einen direkt gewählten Präsidenten. Ein solches
Gravitationszentrum müsste die Avantgarde, die Lokomotive für die
Vollendung der politischen Integration sein und bereits alle Elemente der
späteren Föderation umfassen.
Mir sind nun die institutionellen Probleme im Hinblick auf die jetzige
EU durchaus bewusst, die ein solches Gravitationszentrum mit sich bringen
würde. Deshalb würde es entscheidend darauf ankommen, sicherzustellen,
dass das in der EU Erreichte nicht gefährdet, diese nicht gespalten und
das die EU zusammenhaltende Band weder politisch noch rechtlich beschädigt
werden darf. Es müssten Mechanismen entwickelt werden, die eine Mitarbeit
des Gravitationszentrums in der größeren EU ohne Reibungsverluste
erlauben.
Die Frage, welche Staaten sich an einem solchen Projekt beteiligen, die
EU-Gründungs-, die Euro11-Mitglieder oder noch eine andere Gruppe, lässt
sich heute unmöglich beantworten. Bei jeder Überlegung über die Option
Gravitationszentrum muss eines klar sein: diese Avantgarde darf niemals
exklusiv, sondern muss für alle Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten
der EU offen sein, wenn diese zu einem bestimmten Zeitpunkt teilnehmen
wollen. Für alle diejenigen, die teilnehmen wollen, aber dazu die
Bedingungen nicht haben, muss es Heranführungsmöglichkeiten geben.
Transparenz und eine Mitwirkungsoption für alle EU-Mitglieder und
–kandidaten wären wesentliche Faktoren für die Akzeptanz und
Realisierbarkeit des Projekts. Und dies muss gerade auch gegenüber den
Beitrittsländern gelten. Denn es wäre historisch absurd und zutiefst
töricht, wenn Europa just zu dem Zeitpunkt, wo es endlich wieder vereint
wird, erneut gespalten würde.
Ein solcher Gravitationskern muss also ein aktives
Erweiterungsinteresse haben und er muss Attraktivität für die anderen
Mitglieder ausstrahlen. Folgt man dem Grundsatz von Hans Dietrich
Genscher, dass kein Mitgliedstaat gezwungen werden kann, weiter zu gehen,
als er es kann oder wünscht, aber dass derjenige, der nicht weitergehen
möchte, auch nicht die Möglichkeit hat, die anderen daran zu hindern, dann
wird sich die Gravitation innerhalb der Verträge herausbilden, ansonsten
außerhalb.
Der letzte Schritt wäre dann die Vollendung der Integration in einer
Europäischen Föderation. Damit wir uns nicht missverstehen: von der
verstärkten Zusammenarbeit führt kein Automatismus dorthin, egal ob als
Gravitationszentrum oder gleich als Mehrheit der Unionsmitglieder. Die
verstärkte Zusammenarbeit wird zunächst vor allem nichts anderes als eine
verstärkte Intergouvermentalisierung angesichts des Drucks der Fakten und
der Schwäche der Methode Monnet bedeuten. Der Schritt von der verstärkten
Zusammenarbeit hin zu einem Verfassungsvertrag – und genau dies wird die
Voraussetzung der vollen Integration sein – bedarf dagegen eines bewussten
politischen Neugründungsaktes Europas.
Dies, meine Damen und Herren, ist meine persönliche Zukunftsvision: Von
der verstärkten Zusammenarbeit hin zu einem europäischen
Verfassungsvertrag und die Vollendung von Robert Schumans großer Idee
einer Europäischen Föderation. Dies könnte der Weg sein!
 
 
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3.Ausgabe_17.12.2000 |